Tuschens Tacheles

An einem Sonntagnachmittag im Oktober letzten Jahres, dachte ich, wir würden diesen Film nie wieder sehen. Elf Jahre nach dem Aus des „Tacheles“ in der Oranienburger Straße, sitzt Regisseur Klaus Tuschen nach der Vorstellung von „Aufgestanden in Ruinen – Projekt Tacheles“ auf dem gepolsterten Sofa im kleinen Saal des Kino Babylon und sagt mit leiser Stimme, er habe noch keinen Sender gefunden, welcher sich für den Film interessiert. Wie kann man sich denn nicht für diesen Film interessieren, der eine Brücke über das magische Jahr 1990 schlägt? Im Vakuum zwischen gefallener Mauer und Wiedervereinigung wird ein Kunsthaus geboren.

Quartier Am Tacheles: Eingefrorenes Lebensmodell (Foto: André Franke)

Die Kamera fängt die Geister einer Ruine ein, die sich zur Selfmade-Baustelle mausert. Im Zeitraum von Februar 1990 bis März 1991 besucht Klaus Tuschen zusammen mit einem Kollegen das Kunsthaus Tacheles. Er filmt, wie die Besetzer die Ruine aufräumen. Er filmt, wie die Künstler in den Räumen arbeiten und ausstellen. Er filmt, wie sie im Plenum miteinander streiten. Er filmt, wie sie sich auf Vertragsverhandlungen mit Bezirk und Senat vorbereiten. Und er holt sie fortwährend, einzeln und in Gruppen, vor die Linse und vors Mikrofon, wo sie aussprechen, was sie bewegt.

„Ich dachte, ich laufe in meinen Traum hinein“

Als Natascha Hedke ins Tacheles kommt, denkt sie, sie läuft in ihren Traum hinein. So beschreibt sie den Schritt über die Schwelle in das heruntergekommene Kunsthaus. Peter Poynton, ein Australier, der im Tacheles die Bar schmeisst, macht sich ein bisschen lustig über die Deutschen und ihre Liebe für Vollversammlungen: „Germans love plenums“. Und Jochen Sandig ringt um die richtige Methode, seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen dazu zu bewegen, aktiv an der Gestaltung des Kulturprogramms und der Verwaltung des Hauses teilzunehmen.

Wenn Takuya Ishide mit nacktem Oberkörper in rasenden Zügen seine Performance aufführt, wirbelt der Tänzer im Saal so viel Dreck vom Boden auf, dass klar wird, das müssen andere Zeiten gewesen sein. Das Publikum würde heutzutage husten, Masken tragen oder den Saal verlassen. Auch die Szene, in der der Bildhauer Kemal Cantürk auf dem Hof sitzt und mit staubbedeckten Handwerkerhänden seine Steinfiguren abschleift und ausschabt, verdeutlicht, dass alle Kunst im Tacheles aus einer Baustelle entspringt, kahlen, kalten Räumen, Schutt. Leben und Arbeit im Haus sind hart, roh  –  wie der Rohbau dieser alten Kaufhausruine selbst. Da kippt die jüngste der Künstlerinnen, Jenny Rosemeyer, einmal eine Lache Benzin auf den Betonfußboden, zündet die Pfütze an, um sich zu wärmen. Das muss im ersten Winter des wiedervereinigten Deutschlands gewesen sein.

Tuschens Tacheles ist unromantisch und wirklichkeitsnah. Die Augenblicke, die wir mit den Künstlern von damals auf der Leinwand teilen, sind groß und weit. Wir werden Anwesende. Wir betrachten den Tag im Tacheles wie Tuschens Protagonisten und Protagonistinnen, gewinnen die Lebensperspektive von bauenden Künstlern. Sie haben zwar Muße, aber über die Zeit reiben sie ihre Kraft auf. Abwesend sind die Zukunft und der klare gemeinsame Weg. Am Ende des Films stehen zwei zerstrittene Gruppen. Der Regisseur interviewt sie getrennt voneinander. Die Einen wollen das Haus institutionalisieren. Die Anderen wollen irgendwas, nur eines nicht: sich regieren lassen.

Das Ungeborene des Tacheles

Das Kunsthaus wurde berühmt und existierte zweiundzwanzig Jahre. Ist das nicht eine Erfolgsgeschichte? Für die Babylon-Gäste, die sich im Oktober letzten Jahres den Film anschauten, war es das nicht. Sie nahmen das Tacheles immer noch als Verlust wahr. Mehrere, so stellte sich bei den Salongesprächen heraus, sahen sich den Film nicht an, also kamen erst gar nicht ins Kino, weil sie sich vor der Wut fürchteten, die in ihnen aufzusteigen drohte. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Stadtentwicklung in Berlin schreckt Menschen ab.

Ich möchte vorerst an der positiven Bewertung festhalten: 22 Jahre Tacheles, ein Kunsthaus an einem Standort, ist ein Erfolg, denn:

  1. Das Tacheles hat in dieser Zeit Künstler aus der Welt nach Berlin gebracht.
  2. Das Tacheles hat mit seinen Metallskulpturen einen eigenen Kunststil geschaffen.
  3. Das Tacheles war ein Sprungbrett für Kulturschaffende, wie zum Beispiel für Jochen Sandig (u.a. Sophiensaele, Radialsystem V), der bis 1994 im Haus blieb und 16 Jahre später vom französischen Botschafter zum „Ritter für Kunst und Literatur“ geschlagen wurde.
  4. Das Tacheles hat Maßstäbe gesetzt und einen Anspruch an die Stadt formuliert, den es bis heute einzulösen gilt.
  5. Für eine freie Kulturstätte im Zentrum Berlins sind zweiundzwanzig Jahre eine lange, respektable Lebens-Zeit, wenn man z.B. die schnelllebigen Standortveränderungen in der damaligen Berliner Clublandschaft dagegen hält.

Ich mag den Fokus auf diese Zeitspanne sehr, auch wenn es sich dabei nur um eine Zahl handelt. Sie ist groß genug, um Geschichte abzugreifen. Ein bisschen aufgerundet, lässt sich Verschiedenes ins Verhältnis setzen: Ein „Tacheles“, das wäre ein Vierteljahrhundert. Wer demnächst den 50. Geburtstag feiert, könnte auch sagen: „Nun werde ich zweimal Tacheles.“ Der Zweite Weltkrieg begann so gesehen erst „vor dreimal Tacheles“. Und vor schlappe „viermal Tacheles“ lebte Reichspräsident Friedrich Ebert noch.

Die Abgeschlossenheit ist es, die das Verlorene offenbart. Und es ist eben doppelt verloren: Einmal, wenn wir zurückblicken. Dann war da das Projekt Tacheles mit Ateliers, Werkstätten, Ausstellungsräumen, Café, Panorama-Bar, Konzert-, Tanz- und Performance-Sälen, Programmkino, Hof- und Skulpturengarten sowie Kunstläden, bereits komplex und facettenreich wie ein junger, ausgewachsener Mensch. Der Zukunft zugewandt verlieren wir zusätzlich das in Ewigkeit unbeantwortbare Potenzial, was aus dem Tacheles alles noch hätte werden können: ein Kulturquartier, erweitert um eine Musikschule vielleicht, mit mehr Wohnungen für Künstler und Studenten, dazu Kleingewerberäume in neugebauten, selbstgebauten, mitgebauten Häusern. Eine Bibliothek hätte sich vielleicht auch noch auf das Gelände eingefunden, vielleicht sogar die Zentral- und Landesbibliothek, die jetzt ins Lafayette-Gebäude möchte. In so einem Szenario wäre die ZLB von der Blücherstraße (AGB) die ganze Friedrichstraße hinaufgewandert (nicht nur die halbe bis zum Lafayett an der Französischen Straße). Vielleicht wären aber auch die Prinzessinnengärten, die vom Moritzplatz nach Neukölln wegzogen, hier eingelaufen – wie in einen Hafen, einen Hort für freie Kunst und alternative Lebensformen. Wer weiß? Das Areal um die Ruine, das ja ingesamt 16 Teilgrundstücke umfasste, hätte für viele subkulturelle Projekte Platz gehabt. Und das Tacheles hätte den Taktgeber im Quartierskonzert spielen können. Da hätte es mich auch nicht verwundert, wenn Bechstein seine Klaviere statt in der Europacity (zukünftiger „Bechstein-Campus“) an der Oranienburger Straße zu verkaufen beabsichtigt hätte. Und das wäre dann auch gut so.

Kinder des Tacheles

Heute wäre so etwas möglich. Mit dem Haus der Statistik in Mitte, dem Dragoner-Areal in Kreuzberg oder dem Holzmarkt in Friedrichshain hat sich der Erfahrungshorizont der Stadt enorm erweitert. Künstler, Gewerbetreibende, Clubbetreiber kooperieren mit Senat, Bezirken und Immobiliengesellschaften auf Augenhöhe und kaufen die Grundstücke mit Partnern, auf denen sie zuvor nur Mieter waren. Mittels Erbbaupachten verhandeln sie Entwicklungsperspektiven von bis zu drei oder knapp vier „Tacheles“ (siehe oben) und bekommen damit eine echte Zukunft. In jedem Fall gestalten sie die Bauten selbst, in welchen sie für die nächsten Jahrzehnte zu leben und zu arbeiten glauben. Sie haben dabei einen Organisationsgrad entwickelt, zu dem sich der Kunsthaus Tacheles e.V., der am Ende insolvent ging, nie hatte aufschwingen können.

Skulptur im Hof des Haus der Statistik, 2019 (Foto: André Franke)

„Für mich ist es hauptberuflich geworden“

Dabei werden Genossenschaften und GmbHs gegründet. In der Regel beginnt alles mit einer Arbeitsgruppe, mit einer AG, und scheint sich im Laufe der Projekte zu überschlagen bis die Akteure auch zuweilen diesen Satz von sich geben: „Für mich ist es ziemlich hauptberuflich geworden (…) Es ist heftig“, sagt Angela Brown im Film „Kleinod vor dem Umbruch“, der die Entwicklungen auf dem Dragoner-Areal/Rathausblock in Kreuzberg eingefangen hat. Brown war zu ihren besten Zeiten in sechzehn Gremien.

Werkstattverfahren im Haus der Statistik 2018-2019: „Germans love plenums“ (Peter Poynton, siehe oben)

Um zu erinnern und zu würdigen, welche Panoramen solche Dokumentarfilme aufziehen, rolle ich hier mal die Liste der von den Filmemachern Ulrike Hartwig und Sebastian Nagel interviewten Beteiligten aus der Kleinod-Doku aus (notiert beim Filmscreening im Café „Planwirtschaft“ des Instituts für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin im April 2023):

  1. Jens Ullrich (Künstler, Gewerbemieter)
  2. Ann-Kristin Hamm (Künstler, Gewerbemieter)
  3. Bertram Dudschus (Initiative Upstall)
  4. Hermione Münch-Pohli (aus Südlicher Friedrichstadt, Klimakunsthallen Berlin)
  5. Thomas Fues (Upstadt e.V., Forumsdelegierter)
  6. Holger Gumz (Dragopolis)
  7. Steff (Wem gehört Kreuzberg, grauer Kapuzenpuli)
  8. Roberta Burghardt (Architektin, Stadt von Unten, Garagen, Würfelketten)
  9. Jens Endrich (Wedig Marmorwerk, Schiebermütze)
  10. Mehmet Yildiz (T.R. Kfz-Service)
  11. Sahin Günesdogan (Exklusiv Lackdesign)
  12. Bodo Surma (Polsterwerkstatt, 57 Jahre selbständig)
  13. Peter Manz (Dragopolis)
  14. Paula Erstmann (Zusammenküche, aus Obentrautstraße)
  15. Pamela Schobeß (Gretchen-Club, Sprecherin Gewerbetreibende)
  16. Lars Döring (Gretchen-Club)
  17. Alexander Matthes (Stadtplaner Xhain)
  18. Angela Laich (Künstlerin)
  19. Cemil Yasar (Meister, „Auto KLas“)
  20. Emirhan Beyenal („Auto KLas“)
  21. xxx Demircioglu (Getränkehandel)
  22. Enrico Schönberg (Vernetzungstreffen Rathausblock)
  23. Angela Brown (war in 16 Gremien)
  24. Martina (Wem gehört Kreuzberg)
  25. Rebecca Wall (Zusammenstelle).

Modell Rathausblock/Dragoner-Areal im Kiezraum vor Ort

Gehen wir zurück zu Tuschens Tacheles, sind es weniger Interviewte. Aber auch hier finde ich es nötig, ihre Namen einmal aufzuschreiben, um sie solange wie möglich vor dem Vergessen zu bewahren:

  1. Werner Stiele, Handwerker/Nachbar
  2. Horst Spandow, Ingenieur
  3. Clemens Wallrot
  4. Peter Poynton
  5. Tom Sojka (Verbrennungen nach Brandanschlag)
  6. Samir Semrin
  7. Internationale Brigade
  8. Natascha Hedke
  9. Kemal Cantürk
  10. Jochen Vetter
  11. Leo Kondeyne
  12. Jenny Rosemeyer
  13. Takuya Ishide
  14. Jochen Sandig.

Ein Film fürs Fotografiska

Immer noch – und zwar wöchentlich – führt das Kino Babylon mit Bravour diesen Berlin-Streifen auf. Anlass für die Ausstrahlung war ursprünglich die Eröffnung des Fotografiska-Museums im neugebauten Quartier Am Tacheles im letzten September. Mittlerweile hat das Babylon damit eine Art Gegenpol geschaffen. Von ihm aus, von den Bildern Tuschens, lässt sich das heutige, schicke, seelenlose Quartier von der größtmöglichen Entfernung aus betrachten. Die Bilder senden Gesichter von einer anderen Welt, scheint es. Von einer anderen Stadt, zumindest.

Im kahlen Octogon (Foto: André Franke)

Wenngleich die Nachgespräche im Salon nicht mehr automatisch mit Regisseur Klaus Tuschen stattfinden, hoffe ich, dass er hin und wieder zurückkommt und dass „Aufgestanden in Ruinen“ so lange wie möglich auf der Leinwand zu sehen sein wird. Auf der Leinwand des Babylon und auf den Leinwänden anderer Programmkinos in der Stadt. Besser noch, Tuschen fände endlich den Sender, der dieser Doku gebührt.

Oktober 2023 im Kino Babylon: Der Regisseur auf dem Sofa mit den Kinogästen im Gespräch

Es ist ein Film, der in die Köpfe der Menschen gehört, die in Berlin leben. Es würde nichts schaden, wenn er auch in die Köpfe der Menschen dringt, die Berlin besuchen. Warum zeigt das Museum im neuen Tacheles Tuschens bewegtes Foto eigentlich nicht? Das wäre doch die Krönung. Mit seinen zwölf, dreizehn Monaten aufgezeichnete Tacheles-Geschichte, dokumentierten Tacheles-Anfängergeists, stellt der Film ja wirklich eine Art Blitzlicht in den 22 Jahren der Künstlerruine dar. Das sollte man jedem zumuten. Eine Dauerschleife einrichten, unten im Café, wo die Kaffee schlürfenden und wohlbepolsterten Touristen den Draht ins wahre Berlin nicht finden. Das täte mal Not. Und es wäre eine starke Geste des Fotografiska-Museums.


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