Die Cuvrybrache an der Spree – Favela* mit erklärungsbedürftigem Sternchen
Aufgeworfene Frage in der Facebook-Gruppe „Berlin Guides“: Ist die Cuvrybrache eine Favela in Berlin? – Auf den ersten Blick klingt das übertrieben. Die Favelas sind größer und werden von bis zu 200.000 Menschen bewohnt, liegen am Stadtrand und werden im Zuge ihrer Entwicklung sogar zu offiziellen Stadtvierteln erklärt. Die “Cuvry” ist dagegen überschaubar, kann in keine Himmelsrichtung expandieren, liegt in der Innenstadt, sogar an der Spree, und die Chancen, dass das, was die “Cuvryianer” dort laut einer Reportage des Tagesspiegel treiben, von Staatswegen annerkannt wird, sind gleich Null, schätze ich. Trotzdem: Wenn die Favela als brasilianische Variante einer informellen Siedlung in ihrer Riesendimension und mit ihrer oft nachträglich durch die Behörden gebauten Infrastruktur bildhaft die Hohe See ist, muss man in der “Cuvry” mehr oder minder den Dorfteich erkennen. Aber warum?
- Nun, sie expandiert zumindest in die Vertikale. Laut der oben genannten Reportage von Nik Afanasjew, die wirklich lesenswert ist, wurde bereits die erste Hütte mit zwei Geschossen gebaut, was zeigt, dass die Siedlung sich im Rahmen ihrer grundsätzlichen Flächenbegrenzung baulich weiterentwickelt und verdichtet. Das die Favelas ausmachende endogene Wachstum findet auch in der „Cuvry“ statt.
- Die “Cuvry” ist absolut informell. Das sind die brasilianischen Favelas auch. Genauso Gecekondus in der Türkei. Nur die Namen des immer gleichen Phänomens der Notverstädterung sind geografisch verschieden. So heißen sie in Argentinien „Villa Miseria“, in Chile „Poblaciones“, in Pakistan „Katchi Abadis“.
- Die “Cuvry” (und ich plädiere für eine gleichlautende Namenstaufe für deutsche oder zumindest Berliner informelle Siedlungen) ist Anlaufstation und Auffangbecken für Zuwanderer, ein Berliner Kopfbahnhof des 21. Jahrhunderts! Da wird berichtet von einem Philmon aus Lybien, auch von einem Polen aus Breslau und von bulgarischen Wanderarbeitern. Über den grauen Teppich, keinen roten, gelangen sie in die Großstadt. Auch die Tore von Sao Paulo & Co. sind für die Mittellosen grau. Von der Hüttenstadt aus denken und handeln sie, so auch in der „Cuvry“: Während Philmon erkennt, dass er Arbeit braucht, gehen Andere kriminellen Aktivitäten nach: “Wir gehen die Sinti und Roma klatschen”, heißt es in dem Bericht.
Was spricht noch dafür, dass die „Cuvry“ Berlins Favela ist? Kommentiert!
Barackia ist ja schon ein eingeführter Begriff für Berlin. Muss schon sagen, dass ich den Bericht in der Gartenlaube von 1872 (http://de.wikisource.org/wiki/Ein_Besuch_in_Barackia) für einen ziemlich romantisierenden halte. Ich befürchte, dass das z.T. heute wieder der Fall ist, wenn ich so manche Diskussionen zum Tagesspiegel-Artikel im Netz lese. Allgemein zu diesen Siedlungen siehe auch: http://www.luise-berlin.de/bms/bmstxt97/9708gesb.htm (Der Autor Wernicke, hat wohl tatsächlich am meisten dazu gesucht.)
Beide Texte gelesen. Danke für die Lektüre. Komme zu dem Schluss: Die Cuvry ist keine Barackia. Ihr fehlt die Selbstverwaltungskompetenz. Eher gleicht sie einem der im Text erwähnten Armenhäuser, vor denen selbst die Barackia-Berliner zurückschreckten. Warum zog der „Flieger“ weg von der Cuvry? – Weil er die Schnauze voll hatte von dem Selbstzerstörungstrieb der Cuvryianer.
Tja diese Selbstverwaltungskompetenz ist das spannende an Barackia, wobei es wohl Beschreibungen von Seiten SPD-naher Quellen gibt, die diese in Frage stellen. Die Gartenlaube ist ein durchaus als relativ konservativ zu bezeichnendes Blatt, dass ungerne für das Bürgertum zu beunruhigende Lektüre gab. Ich würde schon sagen, dass der Text schwer zu romantisieren neigt. Das Ausmaß der Romantisierung allerdings könnte man erst bei Kenntnisnahme aller Quellen einschätzen. Bezeichnend ist schon mal, dass die Beispiele der Selbstverwaltung ausschließlich bei der „Barackia“ vorm Kottbusser Tor zu finden ist. Für das in der Hasenheide, vorm Frankfurter Tor oder vorm Königs-/Greifswalder wird geschwiegen…