Neun Karpfen in einem Teich

Berlins Katar

Ein Feature des RBB über die Großbaustelle am Potsdamer Platz findet im Januar mein Ohr und bringt mich zum Nachdenken. Besser gesagt, erstmal zum Staunen: So weit sind die 1990er Jahre weg! So vergessen sind die Menschen, die die Orte gebaut haben, die heute unser Alltag sind oder unser Beruf oder unser Vergnügen. Ich poste das Feature daraufhin mit Blick auf Katar, weil die Reportage dem Schicksal der Bauarbeiter nachspürt und schreibe, Berlin habe in Sachen Bauen seine eigene Miserengeschichte. Anschließend sehe ich mich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Zustände auf den Baustellen Katars zu verharmlosen. Ich könne die Zustände auf den Baustellen Berlins nicht mit den Zuständen in Katar vergleichen, meint ein geschätzter Kollege. Ich finde aber, das sollte jemand mal tun.

Stadtbild Potsdamer Platz mit Renzo Piano-Tower, Helmut Jahn-Tower, dazwischen verdeckt durch historische Ampel: Hans Kollhoff-Tower

Uhrzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Lebenszeit. Die Stechuhren tickten in den Baugruben am Potsdamer Platz eher nach dem Mond.

Jemand hat die Absicht, Berlin mit Katar zu vergleichen

Das Verrückte an Vergleichen ist, jeder versteht etwas anderes darunter. Damit fängt es schon mal an. Für mich ist ein Vergleich nicht dasselbe wie etwas mit etwas gleichsetzen. Deshalb verstehe ich auch die weit verbreitete Redewendung nicht, man könne Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Klar kann man das: Birnen sind unten dick und oben schlank. Bei Äpfeln versammelt sich das Fruchtfleisch mittig. Beide sind aber Obst, wachsen an Zweigen, haben mitunter die gleiche grün-gelbe Farbe, und essen kann man sie auch. Am Ende des Vergleichens tauchen vielleicht mehr Gemeinsamkeiten auf als Unterschiede. Deshalb lohnt es sich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Es ist eine naheliegende und einfache Aufgabe. Schwieriger wird es mit Quitten.

Ich habe mir das Feature vom RBB also noch mal genauer angehört und die Infos aus dem Hörkanal auf Zeile gebracht. Dasselbe habe ich mit einer ARD-Doku zu den WM-Baustellen in Katar gemacht. Ich bleibe dabei, es ist eine einfache Aufgabe, allerdings eine einfache Fleiß(!)-Aufgabe. Beide Reportagen hier vor ab zum Nachhören und Nochmal-Hören:

RBB-Feature „Die Großbaustelle Potsdamer Platz“ von Paul Kohl vom 4. Januar 2023 (53 Minuten)

ARD-Doku „Die Toten“ (Episode 2 der Reihe „Katar – WM der Schande“, 30 Minuten), verfügbar bis 6.10.2024

Blick aus einem Fenster des Kollhoff-Towers auf den Renzo Piano-Tower und das Dach der Potsdamer Platz Arkaden

Blick vom Kollhoff-Tower Richtung Süden auf den Renzo Piano-Tower und das Dach der Potsdamer Platz-Arkaden. Rechts unten: Alte Potsdamer Straße zum Marlene-Dietrich-Platz

Zehren von Berliner Schrippen

Aus der RBB-Doku erfahren wir: Die Bauarbeiter vom Potsdamer Platz arbeiteten täglich 14 Stunden und mehr. Einer berichtet, sie hätten sogar nonstop 24 bis 27 Stunden gearbeitet, dabei zwei bis drei Stunden pro Nacht geschlafen. Kosten für Unterkunft und Essen werden ihnen vom Lohn abgezogen. Diese Abzüge betragen pro Monat bis zu 1.600 D-Mark. Heraus kommt ein Stundenlohn von 3,50 DM, wobei der Mindestlohn (auf 8 Stunden pro Tag bezogen) eigentlich 16 DM pro Stunde betragen sollte – auch für EU-Arbeiter.

Ob sie den Lohn am Ende überhaupt erhalten, ist nicht sicher. Ein polnischer Bauarbeiter, wie dessen Kollege berichtet, bekommt statt der verdienten 3.000 DM nur 1.300 DM ausgezahlt. Als er protestiert, wird er geschlagen. „Man konnte sehen, dass sein Gesicht war nicht korrekt“, berichtet der Kollege in Minute 29. Oder die Arbeitgeber zeigen die Bauarbeiter an, die sie selbst eingestellt haben. So befreien sich die Firmen von den Lohnzahlungen, entrichten lieber ein Bußgeld, das weniger beträgt als der Lohn. In osteuropäische Länder, aus denen viele der Subunternehmen heraus agieren, können Bußgeldbescheide nicht einmal zugestellt werden. Auf Razzien bringen die Bauarbeiter zwei Worte treffsicher heraus, die ihnen zuvor eingetrichtert werden: „Sechzehn“ (D-Mark) und „acht“ (Stunden pro Tag) – noch bevor sie gefragt werden.

Aufgerissene Fassade eines Bürogebäudes von Architekt Richard Rogers in der Daimler-City am Potsdamer Platz. Im Vordergrund aufgewühlter Boden der Grünanlage am Standort des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs

Marode Grünanlage: Sinnbild für die heute unsichtbaren Fundamentarbeiten einer gefeierten Architektur: Der märkische Sand, ausgehoben und zubetoniert von Arbeitsmigranten, gebärt und trägt den Beton, den Stahl und das Glas des Potsdamer Platzes, hier eines Gebäudes von Richard Rogers.

Die Bauarbeiter kommen in Berlin in Containern unter. Zu sechst wohnen sie auf einer Fläche von acht mal vier Quadratmetern, sind ohne Strom und ohne Wasser, berichtet der Polnische Sozialrat (33. Minute). Die Toilette war draußen. Geschlafen wurde auch auf dem Bau, um wenigstens Kaffee kochen zu können.

Tote gibt es am Potsdamer Platz laut Doku nicht zu beklagen. Was der Sicherheitskoordinator von Debis beschreibt, klingt aber abenteuerlich: Bauarbeiter klauben sich die Bretter aus den Absturzsicherungen der Baustellen zusammen, um infolge systematischen Materialmangels Gerüste zu bauen. Ein anderes 25 Meter hohes Gerüst wiederum steht völlig frei, weil die Arbeiter die Gerüsthaltepunkte entfernt haben. Es gab Unfälle. Zwei deutsche Bauarbeiter sprechen aus, was sie über die ausländischen Bauarbeiter dachten (35. Minute):

„Wieder einer weniger, morgen kommen drei neue“

Ansicht der Alten Potsdamer Straße mit Restaurant am Potsdamer Platz 1. Davor die Einfahrt zur Tiefgarage mit an Geländern angeschlossenen Fahrrädern.

Die Adressbildung für einen zerstörten Ort in Berlin war erfolgreich. Aber sie hatte ihren Preis, und den haben Männer (und Frauen) aus Deutschlands europäischen Nachbarländern bezahlt

Sie würden behandelt wie Zwangsarbeiter, berichten die Deutschen. Das Frühstück: ein Brötchen, ein 0,2l Trinkpack. Schnellst- und Minimalversorgung:

„Da kommt der Vorarbeiter mit einer Bäckerkiste durch, verteilt und dann wird weitergearbeitet.“

Einer begeht beinahe Selbstmord. Er ist Landwirt, um die 50 Jahre alt, aus Portugal, spricht kein Wort Deutsch, besitzt kein Geld, als seine portugiesische Firma ihn nach einer Woche kündigt und unbezahlt in Berlin auf die Straße setzt. Verzweifelt klettert er auf einen Kran, verlangt 800 Mark für das Flugticket nach Hause. Oder er spränge aus 75 Metern Höhe, so der Bericht. Ein Dolmetscher geht hoch. Das Geld wird ihm zugesichert. Der Mann kommt nach zwei Stunden herunter.

Trauern in Nepal

Die Bauarbeiter unterliegen in Katar dem „Kafala-System“, wie Minky Worden von Human Rights Watch in der Doku beschreibt. Reisepässe werden beschlagnahmt, die Ausreise wird verweigert, wie auch der Wechsel des Arbeitsplatzes. Trotz neuer Gesetze und Reformen halten Missbrauch, Lohnbetrug und Todesfälle an.

So wartet der nepalesische Gastarbeiter, Dil Prasad, nach seiner Rückkehr in die Heimat auf vier Monate Gehalt. Andere Bauarbeiter warten bereits während ihres Einsatzes auf ihr Gehalt. Weil es ausbleibt, ernähren sie sich von Wasser und Brot. Offiziell beträgt ihr Lohn umgerechnet 2,55 Euro pro Stunde. Doch Zusatzzahlungen, z.B. für Überstunden, werden von der Firma gestrichen. Die Arbeiter protestieren. Die Firmen erlassen Streikverbote.

Buch auf orientalischem Teppich liegend: Cover mit Titel "Katar - Sand, Geld und Spiele". Ein Porträt. Autor: Nicolas Fromm, Verlag: C.H. Beck

Mittlerer Osten mitten in Berlin

In den engen und dunklen Unterkünften hausen die Arbeiter zu acht. In der Pandemie verbreitet sich Corona wie ein Lauffeuer. Um die eigene Bevölkerung zu schützen, riegeln die Behörden in Katar die Industrial Areas, in denen die Gastarbeiter leben, polizeilich ab. Sogar die Lebensmittelversorgung kommt zum Erliegen. Die Arbeiter erleben eine Ausgrenzung, die Nick McGeehan von FairSquare „Apartheid“ und strukturellen Rassismus nennt.

In Katar gibt es auf den Baustellen Tote. Eine offizielle Statistik, die in der Doku herangezogen wird, beziffert die Zahl gestorbener Arbeitsmigranten im Zeitraum von 2010 bis 2019 auf 15.000. Zum Leidwesen von FairSquare unterscheidet die Statistik allerdings die verschiedenen Berufsgruppen nicht, so auch nicht die Bauarbeiter. Nick McGeehan leitet dennoch „tausende Todesfälle“ daraus ab, seit Katar die WM bekommen hat: 9.000 Tote kämen aus Südasien, 78 Prozent der Toten seien Männer, und 70 Prozent der Todesfälle blieben ungeklärt. Offiziell, sagt die Fifa, seien nur drei Stadionarbeiter während der Arbeit verstorben. Darunter ist der Arbeitsmigrant Renuka Chaudhary, der aus der Höhe des Al-Janoub-Stadions stürzt und in Nepal Frau und Tochter zurücklässt. 35 weitere Fälle werden verschwiegen und nicht als Unfälle betrachtet, weil die Arbeiter nicht auf der Baustelle verstarben. Auffällig oft steht auf Totenscheinen die Todesursache Herzstillstand.

Brutal bauen

Noch nie habe ich in meinem Leben auf dem Bau gearbeitet. Allerdings habe ich Müll in die Verbrennungsanlage geschoben und bin auf dem Spargelacker Traktor gefahren (beides gegen relativ frische D-Mark). Der eine Arbeitsplatz hat mir gezeigt, dass ein Unfall nicht unbedingt dort geschieht, wo man ihn vermutet. Im zerfledderten Müll stehend trat ich auf meine Hacke, deren Stiel mir ins Gesicht schlug. Platzwunde. Was wenn ich bewusstlos aufs Förderband gefallen wäre und der Anlagenfahrer in dieser Nacht Tomaten auf den Augen gehabt und mich übersehen hätte? Und Hunger darf ich es nicht nennen, was ich an einem Tag auf dem Feld erfuhr. Tja, da vergaß ich meine Stullen und stand in der Mittagspause ohne Essen da. Meine Not schien mir so groß, dass ich nicht davor zurückschreckte, einen Freund anzurufen und ihn zu bitten, mir etwas zum Beißen zu bringen. Ich bin ihm heute noch dafür dankbar, wenn ich an die Situation denke. Nur Stullen, nur Spargel stechen. Dagegen: Von Schrippen leben auf dem Bau?

Wo Arbeit brutal ist, sollte man sie als Brutalität so stehen lassen. Sie ist gleich groß bei 50 Grad Celsius wie bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Sie ist gleich groß, wo körperliche Arbeit nicht mit warmer Mahlzeit vergolten wird. Für die Brutalität des Wohnens gilt dasselbe: Sie entwürdigt die sechs Menschen im Berlin-Container in gleicher Weise wie sie es mit den acht Menschen pro Raum in den Unterkünften Katars anstellt. Unter Lebensgefahr arbeiten, hungernd hausen, um Gehälter betrogen werden – in dieses Miseren-Dreieck der Arbeitsmigranten blicken die katarischen Gastarbeiter aus Nepal mit denselben zwei Augen wie die europäischen aus Polen, Albanien und Portugal, wenn sie sich auf die Baustellen ihrer Hoffnung und Verzweiflung begeben.

Neun Karpfen in einem Teich

Schwimmzeit, Lebenszeit. Ob die Karpfen im Piano-See am Potsdamer Platz arbeiten oder frei haben, lässt sich schwer sagen

Ja, es gibt Unterschiede:

  1. die Dimensionen der Tragödie,
  2. die Staatsform der Schauplätze,
  3. das Prestige der Projekte.

Alle drei Faktoren sind größer in Katar als in Berlin. Mehr zerstörte Biografien, mehr zentralisierte Macht, mehr zelebrierte Weltöffentlichkeit. Vermutlich deshalb blicken alle bevorzugt auf den Wüstenstaat, um die Ausbeutung von Arbeitsmigranten zu kritisieren. Dort gibt es die vielen Toten, hier keinen einzigen. Dort herrscht ein Monarch, hier streitet sich das Volk. Dort geht es um den Bau von sieben Fußballstadien, hier um die Wiederbebauung einer Kriegsbrache, die fast niemanden (auf der Welt) an die Decke springen lässt. Oder?

„Hier ist für viele Berlinerinnen und Berliner so etwas wie ein Wunder geschehen“.

(Eberhard Diepgen, damaliger Regierender Bürgermeister Berlins, am 2. Oktober 1998 bei der Eröffnung des Debis-Centers auf dem Marlene-Dietrich-Platz in Minute 30 der RBB-Doku)

Für größere Worte – oder sogar mehr als Worte – hat es beim CDU-Nachwende-Bürgermeister nicht gereicht. Jedenfalls wird nichts Bewegendes berichtet. Der Potsdamer Platz, ein Wunder? Diepgen hatte wahrscheinlich noch den Fall der Mauer vorm Auge, als er die Rede hielt. Die Rückkehr des Potsdamer Platzes ist kein Wunder. Denn das, wofür er im alten Berlin stand, ist mit der Wiederbebauung ja nicht zurückgekommen. Oder Diepgen kannte die Kletteraktion des portugiesischen Bauers hinauf auf den Kran. Dann kann man es ruhig ein Wunder nennen, dass die prominente Adresse mit keinem Menschenleben bezahlt werden musste. Denn hätte Diepgen denn von einem Wunder auch dann noch sprechen dürfen, wenn der verzweifelte Mann gesprungen wäre? Und hätte Daniel Barenboim an dem Tag sein Kranballett dirigieren wollen, wenn einer der 19 Baukräne zuvor zu einem Sprungbrett in die Grube zweckentfremdet worden wäre? Der Potsdamer Platz hat – in der Statistik – nur Glück gehabt.

Blick vom Kollhoff-Tower nach Osten auf den Leipziger Platz. Im Bild links: Vergoldeter Pfeiler der Hochhauskrone an der Panorama-Etage des Kollhoff-Towers

Blick vom Kollhoff-Tower nach Osten auf den Leipziger Platz. Im Bild links: Vergoldeter Pfeiler der Hochhauskrone an der Panorama-Etage

Think global, act local

Ist es nicht zehnmal mehr wert, die Ausbeutung von Arbeitsmigranten in Berlin und Europa zu betrachten als die in Katar? Denn es heißt doch: „Think global, act local!“ Wir betrachten das gleiche Phänomen, aber in Berlin sehen wir das Produkt, den Potsdamer Platz, täglich. Nutzen es, zeigen es, verkaufen es. Sollten wir Besuchern nicht vielmehr über die Gewerke und Herkünfte der Gastarbeiter erzählen als über die Lebenswerke von Kollhoff & Co.? Und auch, weil wir in Europa die Mittel zu haben glauben, um die Unterdrückung der Arbeiter zu verhindern. Sie findet in einer freiheitlichen Gesellschaft statt, nicht in monarchischen aussichtslosen Strukturen. Die Bauarbeiter der Hauptstadt haben Rechte. Allerdings gibt die Doku eine Ahnung davon, dass Recht ohne angemessene Exekutive beinahe wertlos ist oder zumindest wirkungslos. Gleichzeitig zeigt sie, dass auf anderer Ebene als den Arbeitsschutzgesetzen wiederum entscheidende Gesetze noch fehlen (Generalunternehmer-Haftung, 49min.). Das heißt, die Exekutive ist schwach, die Legislative bleibt (vermutlich immer) unzulänglich, da zu langsam. Da mag sich der katarische Emir womöglich die Hände reiben, denn er hält beide Gewalten in einer Hand.

2 Kommentare
  1. Andrea Künstle sagte:

    Wie gut, dass geschätzte Kollegen diesen Vorwurf der Verharmlosung“ gemacht haben. Das führte zu dieser Gegenüberstellung und neben anderen wichtigen Erkenntnissen zu dieser: „……Sie findet in einer freiheitlichen Gesellschaft statt, nicht in monarchischen aussichtslosen Strukturen.…“
    Danke und liebe Grüße, Andrea

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