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Oswalts Hoffnung

Ernst-Wolf Abée spricht und sagt, es sei in seinem Innern eine Klappe aufgegangen, als er sich in jüngster Vergangenheit einmal öfter mit dem Berliner Schloss konfrontiert sah. Er präsentiert seine Idee, aus dem Humboldtforum ein Anti-Kriegsmuseum zu machen. Ein Bild zeigt die Barockfassaden als Schlachtschiff. Aus den Fenstern stechen Kanonenrohre heraus. Alle Luken sind geöffnet. Feuer frei. Abées Idee ist eine von 153 Ideen zur „Schlossaneignung“. Die gleichnamige Initiative hatte einen Wettbewerb ausgelobt. Nun stellen in der Stadtwerkstatt in der Karl-Liebknecht-Straße in Mitte neben Abée 20 weitere Kritiker, Kreative, Künstler und Weiterdenkende ihre kleinen dreiminütigen Werke vor. Sie, Werke wie Werktätige, zählen zu den ausgewählten.

Präsentation der Ideen zur „Schlossaneignung“ am 10. Oktober 2024. Architekt und Professor Philipp Oswalt begrüßt alle Mitwirkenden und Gäste (Foto: André Franke)

Darunter ist auch Larry Bonchaka, der ein Basecap mit der Aufschrift „HOPE“ trägt. Er präsentiert in Englisch. Was, ist im Grunde zweitrangig, denn die Botschaft, die er vermittelt, besteht aus genau eben diesen vier Buchstaben: H-O-P-E. Moderator Anh-Linh Ngo, Chefredakteur der Zeitschrift Arch+, erkennt das sofort und unterstreicht Larrys Abgang mit dem rhetorischen Wink auf die Hoffnung, die heute im Raum schwebt, hier in der Stadtwerkstatt. Das Berliner Schloss ist zwei Steinwürfe entfernt. Larrys Hoffnung ist die Fortsetzung des großen „ZWEIFEL“, der als riesiger Schriftzug, als Konterfei der Schlossbaugegner, auf dem Dach des ausgeräumten und asbestsanierten Palasts der Republik stand. Früher war Zweifel, heute ist Hoffnung. Es besteht Hoffnung, dass aus Schloss und Humboldtforum mehr wird als Schloss und Humboldtforum.

Auch Philipp Oswalt, Mitgründer der Initiative „Schlossaneignung“, scheint zu hoffen. Das verrät der Ton, in dem er spricht. Er weist daraufhin, betont, dass die Petition, die gestartet wurde, 30.000-mal mitgezeichnet werden muss. Sie läuft bis zum 8. November. Bei Erfolg muss sich der Bundestag mit dem Thema beschäftigen. 30.000 Unterschriften sind aber viel. Ich glaube, sie werden nicht zusammenkommen. Diesmal noch nicht.

Wo Drohnen stören

Dann, beim nächsten Mal vielleicht. Oder beim übernächsten Mal. Was hier nämlich losgetreten wird, hat eine große Zukunft. Es soll ein Rohling geformt werden. Es soll etwas vom Himmel Gefallenes in der Erde anwachsen. Es soll in der Gesellschaft anwachsen. Nutzungen sollen ergänzt werden, Barockfassaden sollen überblendet, demontiert oder vegetativ durchwuchert werden. Neue Zugänge sollen durch Außentreppen entstehen und durch hochgebaggerte Sandhügel. Schwärme von Drohnen sollen wie Krähen die Gemütlichkeit und das Schwelgen in der Schlosserinnerung stören. Der gemeinsame Nenner aller Entwürfe ist: An diesem Schloss fehlt etwas. Das Gebäude und sein Forum erzählen die Gesamtgeschichte nicht. Da genügt es auch nicht, wenn zum Festival of Lights die Spreefassade des Schlosses mit Motiven des Palasts der Republik überspielt wird. Zwar blüht die Glasblume aus dem früheren Palastfoyer über zehn Abende, grüßen Jung-Pioniere mit blauen Halstüchern und Käppis, zieht ein Fuchs über die grüne Wiese. Ein Fuchs?

Fuchs stromert über die Spreefassade des Humboldtforums. Ohne das Festival of Lights gibt es keinen Grund hinzuschauen (Foto: André Franke)

Als ich am ersten Sonnabend des Festivals mit Touristen am Spreeufer gegenüber der Fassade stand, war der Fuchs für mich eine echte Überraschung. Selten hat man als Stadtführer die Gelegenheit diese Geschichte aus der Tasche zu ziehen. Beim Thema 9. November 1989 reicht es meist nur für Schabowskis Zettel und die Bornholmer Straße. Doch Schabowskis Zettel ist auch der Zettel von Gerhard Lauter.

Und wo Füchse ins Theater gehen

Oberst Gerhard Lauter schreibt ihn mit Mitarbeitern am Morgen des 9. November im Ministerium des Innern. Anschließend geht der Entwurf der Reiseregelung ans Politbüro und ins ZK der SED. Am Abend, nach getaner Arbeit, geht Lauter ins Theater. Er schaut sich „Reineke Fuchs“ von Goethe an (vermutlich handelt es sich um die völlig frei vorgetragene und äußerst zu empfehlende Lesung von Eberhard Esche, die schon 1984 im DDR-Fernsehen übertragen wurde und heute noch bei youtube zu sehen ist). In einem späteren Interview gibt er preis, dass das Stück eine perfekte Parodie auf die damaligen DDR-Verhältnisse gewesen sei und dass niemand gelacht hätte. Das Theater, in dem der Oberst saß, war das Theater im Palast der Republik. Als er nach Hause geht, klingelt das Telefon, und er muss ins Ministerium, wo er die Nacht damit verbringt, den „Schaden“ zu begrenzen.

Ein Fuchs zieht durchs Schloss. – Könnte man das nicht irgendwie auch in Echt hinkriegen? Wo Füchse in Berlin über den roten Teppich des Kanzleramts trappeln (letzte Woche auf einem Foto im SPIEGEL zu sehen), und vom „Kita-Fuchs“ und „Schul-Fuchs“ berichten sogar meine Kinder. Der Schulfuchs ist anerkannt, gleichermaßen von Schülern wie Lehrern, und dort immer gern gesehen. Vielleicht könnte man diesen motivieren, vom Prenzlauer Berg runter ins Spreetal zu wandern, wenn die Gastronomie des Humboldtforums einen Eimer Abfälle dauerhaft in den Schlüterhof stellt.

Die Füchse lassen sich vom Schlossplatz nicht vertreiben. Zu überzeugend hat Eberhard Esche seinen „Reineke Fuchs“ gebellt: in zwölf Gesängen und seit 1984 im Palast-Theater (Foto: André Franke)

Bisschen Farbe für die toteste Architektur Berlins

Ohne Fuchs und ohne Festival of Lights ist die Spreefassade des Schlosses tot. Nur „Humboldt Forum“ steht fett drauf. Diese Wand ist das abstoßendste Stadtbild, das Berlin seinen Besuchern und Bewohnern zuzumuten wagt. Ich sehe da nur Wilhelmstraße, sonst gar nichts. Wäre sie entstanden wie Architekt Franco Stella sie geplant hatte, bräuchte es bewegte Füchse nicht. Dann sähen wir Menschen, sähen die Gäste des Humboldforums durch die offene Loggia wandeln, verweilen, winken. Gepanzert hat man das Humboldtforum mit den immer geschlossenen, schwarz-grauen Fensterkreuzen.

Gleichförmig und mit getrübtem Glas, unbewegt und Bewegung im Außenraum nicht im Stande zu verursachen, trennt ausgerechnet die einzige modern gestaltete Fassade was doch zusammengehört: die Menschen im Schloss und die Menschen in der Stadt, die Berliner und die Spree, das Wissen aus dem Humboldtforum und das Wasser im Fluss. Die Besucher des Humboldtforums dieser Begegnung zu berauben, ist beinahe ein Gewaltverbrechen. Da pumpt man sie voll mit den Stoffen der Weltkulturen, maximiert das Raumprogramm des Neubaus, dass das Forum auseinanderplatzt und hält die zugeballerten Köpfe gefangen im Gebäude, ohne dass sie sich durch den Blick auf die langsam dahinziehende Spree, auf den vorbeirollenden Wellen wieder etwas entleeren könnten. Auch das ist schon wieder so eine Ironie. Dass es am Schlossplatz so ganz ohne Gewalt nicht zu gehen scheint. Und ohne Befehlston auch nicht.

Jung-Pioniere am Humboldtforum. Blaue Halstücher an der nicht ganz so blauen Spree (Foto: André Franke)

Da komme ich mit einer Gruppe Schülern auf Rädern oben ans Schloss. Es ist Nachmittag, Hochsommer. Die Spreefassade liegt gnädig im Schatten, und die Schüler setzen sich auf die hüfthohe (für die Kleinen brusthohe) Balustrade aus Stein. Kühler Stein ist eine Wohltat in der Hitzestadt. Hier lässt es sich für ein paar Minuten aushalten. Und ich erzähle der Gruppe von Schloss, Palast und Humboldtforum. Komme grade bis zum Kaiser, dem letzten, da nötigen Sicherheitskräfte meine aufmerksamen Schüler (aufmerksame Schüler sind Gold wert), von der Balustrade herunterzusteigen! Dieses Steingeländer, ähnlich der Mauer am Brandenburger Tor, das wie eine Bühne einlud, sie zu besteigen, zu bespielen, zu beleben, zu bevölkern, ist die ideale Sitzgelegenheit im öffentlichen Raum östlich des Humboldtforums, erst recht wenn der Ort im Sommer im Schatten liegt. Und es ist die einzige Sitzgelegenheit noch dazu. Als die Typen um die Ecke gegangen waren, stiegen wir wieder drauf. Das war auch eine Form der Aneignung.

Menschenmenge auf dem Marx-Engels-Forum beim Festival of Lights 2024. Im Hintergrund Fassade des Humboldtforums (Foto: E.F.)

Diesen Ort muss man sich aneignen oder meiden und vergessen. Und damit meine ich eben den ganzen Schlossplatz wie es im Sinne des Wettbewerbs Programm ist. Ernst-Wolf Abée machte in seiner Vorstellung einen weiten Zukunftsraum auf. Die Jahreszahl 2089 erschien an irgendeiner Stelle seiner Präsi. Das war – für mich jedenfalls – „mind blowing“. Es werden die Jungen kommen und das Ding umkrempeln. Wir haben ja alle Zeit der Welt.

Vielleicht muss dafür mehr als eine Petition aufs Gleis gesetzt werden. Oder vielleicht auch weniger. Vielleicht kommt die Aneignung oder Auflösung dessen, was heute dort steht, auch auf einem ganz anderen Weg zustande. Vielleicht verdampft dieser Dampfer unmerklich. Ausbleibende Besucher wären ein unterschätztes Szenario. „Wanderer, kommst Du nach Berlin, bleibe den Barockfassaden fern!“ Ja, was wäre das für ein spannender Ort: alle pilgern zum Schloss, aber keiner geht rein. Außen die Hölle los, innen aus die Maus.

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Tuschens Tacheles

An einem Sonntagnachmittag im Oktober letzten Jahres, dachte ich, wir würden diesen Film nie wieder sehen. Elf Jahre nach dem Aus des „Tacheles“ in der Oranienburger Straße, sitzt Regisseur Klaus Tuschen nach der Vorstellung von „Aufgestanden in Ruinen – Projekt Tacheles“ auf dem gepolsterten Sofa im kleinen Saal des Kino Babylon und sagt mit leiser Stimme, er habe noch keinen Sender gefunden, welcher sich für den Film interessiert. Wie kann man sich denn nicht für diesen Film interessieren, der eine Brücke über das magische Jahr 1990 schlägt? Im Vakuum zwischen gefallener Mauer und Wiedervereinigung wird ein Kunsthaus geboren.

Quartier Am Tacheles: Eingefrorenes Lebensmodell (Foto: André Franke)

Die Kamera fängt die Geister einer Ruine ein, die sich zur Selfmade-Baustelle mausert. Im Zeitraum von Februar 1990 bis März 1991 besucht Klaus Tuschen zusammen mit einem Kollegen das Kunsthaus Tacheles. Er filmt, wie die Besetzer die Ruine aufräumen. Er filmt, wie die Künstler in den Räumen arbeiten und ausstellen. Er filmt, wie sie im Plenum miteinander streiten. Er filmt, wie sie sich auf Vertragsverhandlungen mit Bezirk und Senat vorbereiten. Und er holt sie fortwährend, einzeln und in Gruppen, vor die Linse und vors Mikrofon, wo sie aussprechen, was sie bewegt.

„Ich dachte, ich laufe in meinen Traum hinein“

Als Natascha Hedke ins Tacheles kommt, denkt sie, sie läuft in ihren Traum hinein. So beschreibt sie den Schritt über die Schwelle in das heruntergekommene Kunsthaus. Peter Poynton, ein Australier, der im Tacheles die Bar schmeisst, macht sich ein bisschen lustig über die Deutschen und ihre Liebe für Vollversammlungen: „Germans love plenums“. Und Jochen Sandig ringt um die richtige Methode, seine Mitstreiter und Mitstreiterinnen dazu zu bewegen, aktiv an der Gestaltung des Kulturprogramms und der Verwaltung des Hauses teilzunehmen.

Wenn Takuya Ishide mit nacktem Oberkörper in rasenden Zügen seine Performance aufführt, wirbelt der Tänzer im Saal so viel Dreck vom Boden auf, dass klar wird, das müssen andere Zeiten gewesen sein. Das Publikum würde heutzutage husten, Masken tragen oder den Saal verlassen. Auch die Szene, in der der Bildhauer Kemal Cantürk auf dem Hof sitzt und mit staubbedeckten Handwerkerhänden seine Steinfiguren abschleift und ausschabt, verdeutlicht, dass alle Kunst im Tacheles aus einer Baustelle entspringt, kahlen, kalten Räumen, Schutt. Leben und Arbeit im Haus sind hart, roh  –  wie der Rohbau dieser alten Kaufhausruine selbst. Da kippt die jüngste der Künstlerinnen, Jenny Rosemeyer, einmal eine Lache Benzin auf den Betonfußboden, zündet die Pfütze an, um sich zu wärmen. Das muss im ersten Winter des wiedervereinigten Deutschlands gewesen sein.

Tuschens Tacheles ist unromantisch und wirklichkeitsnah. Die Augenblicke, die wir mit den Künstlern von damals auf der Leinwand teilen, sind groß und weit. Wir werden Anwesende. Wir betrachten den Tag im Tacheles wie Tuschens Protagonisten und Protagonistinnen, gewinnen die Lebensperspektive von bauenden Künstlern. Sie haben zwar Muße, aber über die Zeit reiben sie ihre Kraft auf. Abwesend sind die Zukunft und der klare gemeinsame Weg. Am Ende des Films stehen zwei zerstrittene Gruppen. Der Regisseur interviewt sie getrennt voneinander. Die Einen wollen das Haus institutionalisieren. Die Anderen wollen irgendwas, nur eines nicht: sich regieren lassen.

Das Ungeborene des Tacheles

Das Kunsthaus wurde berühmt und existierte zweiundzwanzig Jahre. Ist das nicht eine Erfolgsgeschichte? Für die Babylon-Gäste, die sich im Oktober letzten Jahres den Film anschauten, war es das nicht. Sie nahmen das Tacheles immer noch als Verlust wahr. Mehrere, so stellte sich bei den Salongesprächen heraus, sahen sich den Film nicht an, also kamen erst gar nicht ins Kino, weil sie sich vor der Wut fürchteten, die in ihnen aufzusteigen drohte. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Stadtentwicklung in Berlin schreckt Menschen ab.

Ich möchte vorerst an der positiven Bewertung festhalten: 22 Jahre Tacheles, ein Kunsthaus an einem Standort, ist ein Erfolg, denn:

  1. Das Tacheles hat in dieser Zeit Künstler aus der Welt nach Berlin gebracht.
  2. Das Tacheles hat mit seinen Metallskulpturen einen eigenen Kunststil geschaffen.
  3. Das Tacheles war ein Sprungbrett für Kulturschaffende, wie zum Beispiel für Jochen Sandig (u.a. Sophiensaele, Radialsystem V), der bis 1994 im Haus blieb und 16 Jahre später vom französischen Botschafter zum „Ritter für Kunst und Literatur“ geschlagen wurde.
  4. Das Tacheles hat Maßstäbe gesetzt und einen Anspruch an die Stadt formuliert, den es bis heute einzulösen gilt.
  5. Für eine freie Kulturstätte im Zentrum Berlins sind zweiundzwanzig Jahre eine lange, respektable Lebens-Zeit, wenn man z.B. die schnelllebigen Standortveränderungen in der damaligen Berliner Clublandschaft dagegen hält.

Ich mag den Fokus auf diese Zeitspanne sehr, auch wenn es sich dabei nur um eine Zahl handelt. Sie ist groß genug, um Geschichte abzugreifen. Ein bisschen aufgerundet, lässt sich Verschiedenes ins Verhältnis setzen: Ein „Tacheles“, das wäre ein Vierteljahrhundert. Wer demnächst den 50. Geburtstag feiert, könnte auch sagen: „Nun werde ich zweimal Tacheles.“ Der Zweite Weltkrieg begann so gesehen erst „vor dreimal Tacheles“. Und vor schlappe „viermal Tacheles“ lebte Reichspräsident Friedrich Ebert noch.

Die Abgeschlossenheit ist es, die das Verlorene offenbart. Und es ist eben doppelt verloren: Einmal, wenn wir zurückblicken. Dann war da das Projekt Tacheles mit Ateliers, Werkstätten, Ausstellungsräumen, Café, Panorama-Bar, Konzert-, Tanz- und Performance-Sälen, Programmkino, Hof- und Skulpturengarten sowie Kunstläden, bereits komplex und facettenreich wie ein junger, ausgewachsener Mensch. Der Zukunft zugewandt verlieren wir zusätzlich das in Ewigkeit unbeantwortbare Potenzial, was aus dem Tacheles alles noch hätte werden können: ein Kulturquartier, erweitert um eine Musikschule vielleicht, mit mehr Wohnungen für Künstler und Studenten, dazu Kleingewerberäume in neugebauten, selbstgebauten, mitgebauten Häusern. Eine Bibliothek hätte sich vielleicht auch noch auf das Gelände eingefunden, vielleicht sogar die Zentral- und Landesbibliothek, die jetzt ins Lafayette-Gebäude möchte. In so einem Szenario wäre die ZLB von der Blücherstraße (AGB) die ganze Friedrichstraße hinaufgewandert (nicht nur die halbe bis zum Lafayett an der Französischen Straße). Vielleicht wären aber auch die Prinzessinnengärten, die vom Moritzplatz nach Neukölln wegzogen, hier eingelaufen – wie in einen Hafen, einen Hort für freie Kunst und alternative Lebensformen. Wer weiß? Das Areal um die Ruine, das ja ingesamt 16 Teilgrundstücke umfasste, hätte für viele subkulturelle Projekte Platz gehabt. Und das Tacheles hätte den Taktgeber im Quartierskonzert spielen können. Da hätte es mich auch nicht verwundert, wenn Bechstein seine Klaviere statt in der Europacity (zukünftiger „Bechstein-Campus“) an der Oranienburger Straße zu verkaufen beabsichtigt hätte. Und das wäre dann auch gut so.

Kinder des Tacheles

Heute wäre so etwas möglich. Mit dem Haus der Statistik in Mitte, dem Dragoner-Areal in Kreuzberg oder dem Holzmarkt in Friedrichshain hat sich der Erfahrungshorizont der Stadt enorm erweitert. Künstler, Gewerbetreibende, Clubbetreiber kooperieren mit Senat, Bezirken und Immobiliengesellschaften auf Augenhöhe und kaufen die Grundstücke mit Partnern, auf denen sie zuvor nur Mieter waren. Mittels Erbbaupachten verhandeln sie Entwicklungsperspektiven von bis zu drei oder knapp vier „Tacheles“ (siehe oben) und bekommen damit eine echte Zukunft. In jedem Fall gestalten sie die Bauten selbst, in welchen sie für die nächsten Jahrzehnte zu leben und zu arbeiten glauben. Sie haben dabei einen Organisationsgrad entwickelt, zu dem sich der Kunsthaus Tacheles e.V., der am Ende insolvent ging, nie hatte aufschwingen können.

Skulptur im Hof des Haus der Statistik, 2019 (Foto: André Franke)

„Für mich ist es hauptberuflich geworden“

Dabei werden Genossenschaften und GmbHs gegründet. In der Regel beginnt alles mit einer Arbeitsgruppe, mit einer AG, und scheint sich im Laufe der Projekte zu überschlagen bis die Akteure auch zuweilen diesen Satz von sich geben: „Für mich ist es ziemlich hauptberuflich geworden (…) Es ist heftig“, sagt Angela Brown im Film „Kleinod vor dem Umbruch“, der die Entwicklungen auf dem Dragoner-Areal/Rathausblock in Kreuzberg eingefangen hat. Brown war zu ihren besten Zeiten in sechzehn Gremien.

Werkstattverfahren im Haus der Statistik 2018-2019: „Germans love plenums“ (Peter Poynton, siehe oben)

Um zu erinnern und zu würdigen, welche Panoramen solche Dokumentarfilme aufziehen, rolle ich hier mal die Liste der von den Filmemachern Ulrike Hartwig und Sebastian Nagel interviewten Beteiligten aus der Kleinod-Doku aus (notiert beim Filmscreening im Café „Planwirtschaft“ des Instituts für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin im April 2023):

  1. Jens Ullrich (Künstler, Gewerbemieter)
  2. Ann-Kristin Hamm (Künstler, Gewerbemieter)
  3. Bertram Dudschus (Initiative Upstall)
  4. Hermione Münch-Pohli (aus Südlicher Friedrichstadt, Klimakunsthallen Berlin)
  5. Thomas Fues (Upstadt e.V., Forumsdelegierter)
  6. Holger Gumz (Dragopolis)
  7. Steff (Wem gehört Kreuzberg, grauer Kapuzenpuli)
  8. Roberta Burghardt (Architektin, Stadt von Unten, Garagen, Würfelketten)
  9. Jens Endrich (Wedig Marmorwerk, Schiebermütze)
  10. Mehmet Yildiz (T.R. Kfz-Service)
  11. Sahin Günesdogan (Exklusiv Lackdesign)
  12. Bodo Surma (Polsterwerkstatt, 57 Jahre selbständig)
  13. Peter Manz (Dragopolis)
  14. Paula Erstmann (Zusammenküche, aus Obentrautstraße)
  15. Pamela Schobeß (Gretchen-Club, Sprecherin Gewerbetreibende)
  16. Lars Döring (Gretchen-Club)
  17. Alexander Matthes (Stadtplaner Xhain)
  18. Angela Laich (Künstlerin)
  19. Cemil Yasar (Meister, „Auto KLas“)
  20. Emirhan Beyenal („Auto KLas“)
  21. xxx Demircioglu (Getränkehandel)
  22. Enrico Schönberg (Vernetzungstreffen Rathausblock)
  23. Angela Brown (war in 16 Gremien)
  24. Martina (Wem gehört Kreuzberg)
  25. Rebecca Wall (Zusammenstelle).

Modell Rathausblock/Dragoner-Areal im Kiezraum vor Ort

Gehen wir zurück zu Tuschens Tacheles, sind es weniger Interviewte. Aber auch hier finde ich es nötig, ihre Namen einmal aufzuschreiben, um sie solange wie möglich vor dem Vergessen zu bewahren:

  1. Werner Stiele, Handwerker/Nachbar
  2. Horst Spandow, Ingenieur
  3. Clemens Wallrot
  4. Peter Poynton
  5. Tom Sojka (Verbrennungen nach Brandanschlag)
  6. Samir Semrin
  7. Internationale Brigade
  8. Natascha Hedke
  9. Kemal Cantürk
  10. Jochen Vetter
  11. Leo Kondeyne
  12. Jenny Rosemeyer
  13. Takuya Ishide
  14. Jochen Sandig.

Ein Film fürs Fotografiska

Immer noch – und zwar wöchentlich – führt das Kino Babylon mit Bravour diesen Berlin-Streifen auf. Anlass für die Ausstrahlung war ursprünglich die Eröffnung des Fotografiska-Museums im neugebauten Quartier Am Tacheles im letzten September. Mittlerweile hat das Babylon damit eine Art Gegenpol geschaffen. Von ihm aus, von den Bildern Tuschens, lässt sich das heutige, schicke, seelenlose Quartier von der größtmöglichen Entfernung aus betrachten. Die Bilder senden Gesichter von einer anderen Welt, scheint es. Von einer anderen Stadt, zumindest.

Im kahlen Octogon (Foto: André Franke)

Wenngleich die Nachgespräche im Salon nicht mehr automatisch mit Regisseur Klaus Tuschen stattfinden, hoffe ich, dass er hin und wieder zurückkommt und dass „Aufgestanden in Ruinen“ so lange wie möglich auf der Leinwand zu sehen sein wird. Auf der Leinwand des Babylon und auf den Leinwänden anderer Programmkinos in der Stadt. Besser noch, Tuschen fände endlich den Sender, der dieser Doku gebührt.

Oktober 2023 im Kino Babylon: Der Regisseur auf dem Sofa mit den Kinogästen im Gespräch

Es ist ein Film, der in die Köpfe der Menschen gehört, die in Berlin leben. Es würde nichts schaden, wenn er auch in die Köpfe der Menschen dringt, die Berlin besuchen. Warum zeigt das Museum im neuen Tacheles Tuschens bewegtes Foto eigentlich nicht? Das wäre doch die Krönung. Mit seinen zwölf, dreizehn Monaten aufgezeichnete Tacheles-Geschichte, dokumentierten Tacheles-Anfängergeists, stellt der Film ja wirklich eine Art Blitzlicht in den 22 Jahren der Künstlerruine dar. Das sollte man jedem zumuten. Eine Dauerschleife einrichten, unten im Café, wo die Kaffee schlürfenden und wohlbepolsterten Touristen den Draht ins wahre Berlin nicht finden. Das täte mal Not. Und es wäre eine starke Geste des Fotografiska-Museums.


Links:

Kahlfeldts Kiez

„Baudamen“ … Jemand sagte, man solle doch von „Baudamen“ sprechen statt von „Bauherren“. Das ist wirklich eine gute Idee. Beim Fest von Mitte an einem Septembersonntag in der Berliner Klosterstraße drängt der Bauwille durch die Stimmen von Brigitte Thies-Böttcher, Petra Kahlfeldt und Marie-Luise Schwarz-Schilling und breitet sich in der warmen Kulisse der Parochialkirche aus. Die Damen wollen eine Schule bauen. Nicht irgendeine, nicht irgendwo. Sie setzen sich dafür ein, dass das Evangelische Gymnasium zum Grauen Kloster in die Klosterstraße nach Mitte zurückkehrt.

Podiumsdiskussion in Parochialkirche: Matthias Wemhoff, Alexander Pellnitz, Brigitte Thies-Böttcher, Petra Kahlfeldt, Christoph Rauhut (v.l.n.r.)

Es ist ein Gymnasium, das 1574 im Zuge der Reformation im aufgegebenen Kloster der Franziskaner gegründet wird. Berühmte Schüler wie Schadow, Schinkel und Bismarck besuchen im 18. und 19. Jahrhundert die Schule. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlässt sie den Ort und tritt eine Odyssee in den Westen an. Über die Weinmeisterstraße und Niederwallstraße (beide noch in Mitte) gelangt sie nach Tempelhof und landet nach einem weiteren Umzug 1954 in der Nähe des Hohenzollerndamms in Wilmersdorf. Neun Jahre später, da steht in der Stadt die Mauer schon, übernimmt die Schule die Traditionen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster und führt diesen Namen wieder offiziell. Heute noch werden Sprachen wie Alt-Griechisch, Hebräisch und Lateinisch gelehrt. Heute noch unternehmen die Schüler und Schülerinnen Exkursionen zum Ursprungsort – quer durch die Großstadt.

Ein Ort der Askanier

Das Graue Kloster befindet sich zu seiner Entstehungszeit im 13. Jahrhundert am Rande Berlins. Die Stadtmauer begrenzt das Gebäude an der östlichen Seite. In nördlicher Richtung liegt das Hohe Haus der brandenburgischen Markgrafen, die den Franziskanern das Grundstück zur Verfügung stellen, damit diese für sie die Grablege organisieren – so wird es auf einer der im Festprogramm angebotenen Führungen erklärt. Die Gegend um das Graue Kloster ist somit das älteste Regierungsviertel Berlins.

Führung mit Dirk Schumann zur Architektur der Klosterkirche beim Mitte-Fest 2023

Heute liegt der Ort mitten im Zentrum. Erkennbar ist er nur durch die weithin sichtbare, dach-, tür- und fensterlose Ruine der Klosterkirche. Vom Kloster selbst zeugt nur eine halb im Boden versunkene Feldsteinmauer des früheren Kreuzgangs. Von hier aus verläuft sich die Fläche bis zur Grunerstraße in Abstandsgrün und einer Baustelle.

Es ist die Baustelle des Mammutprojekts „Molkenmarkt“, ein Titel, der Uneingeweihte vermuten lässt, es würde nur ein romantischer alter Marktplatz wiederaufgebaut. Tatsächlich ist der Molkenmarkt, nur der Ansatz eines neuen Stadtquartiers, das sich von der Alten Münze beinahe bis zum Alexanderplatz erstreckt. Vier Berliner Blöcke werden neugebaut. Weil dafür die Grunerstraße nach Norden verschwenkt wird, entsteht auch neben der Klosterkirchenruine ein Baufeld. Es ist im Bebauungsplan für den Bau einer Schule reserviert. Die Stadtplaner nennen die Fläche fachmännisch-technisch: Block D.

Blick auf das Alte Stadthaus von Alter Münze über den Molkenmarkt. Block A wird in Zukunft die Sicht verstellen

Areal des Jüdenhofs in Block C (hinter dem Bauzaun); im Hintergrund Theaterdiscounter (TD)

Theaterdiscounter im Ex-Fernmeldeamt (Ost), links davon Ruine der Klosterkirche und dahinter das Amtsgericht Mitte

Als Marie-Luise Schwarz-Schilling 91-jährig und im roten Mantel für ihr Grußwort auf das Podium steigt, erzählt sie von Odysseus. Wie seine Männer beim Volk der Lotophagen von den Früchten des Lotos essen. Wie sie vergessen, woher sie kommen. Wie sie vergessen, wohin sie gehen. Nach der Geschichte ruft die Stifterin den Gästen des Mitte-Festes „Vergesst nicht!“ zu und lässt sich auf einer der harten hölzernen Bänke in der Parochialkirche nieder.

Neulich stand in der Zeitung, es gäbe für den „Molkenmarkt“ keinen Baubeginn vor 2026. Da bekommt man eine Ahnung davon, wieviel hier auszugraben ist. Wenn Block D des Grauen Klosters an die Reihe kommt, wird die benebelnde Wirkung des Lotos auf die irrfahrenden Köpfe der Stadt nachlassen? Werden die Berliner zu sich kommen? Die Klostergeschichte könnte ihnen ins Gehirn springen und einen – durchaus angenehmen – Schock auslösen. Womöglich schiebt die Klostergeschichte die Kirchenruine etwas in den Hintergrund des öffentlichen Interesses.

Das ist ein wenig aus den Worten von Landeskonservator Christoph Rauhut herauszuhören. Ihm gefällt die Idee von Architekt Alexander Pellnitz nicht, aus der Klosterkirchenruine die Aula des neuen Gymnasiums zu machen – eine 25 Jahre alte Idee, wie Pellnitz gesteht. Damals hatte er seine Diplomarbeit darüber geschrieben. Aber erst war das Kloster. Dann kam die Kirche. Nur weil die Kirche als Ruine und Höhendenkmal greifbar ist, muss sie deshalb auch Ansatzpunkt für die geplante Schule sein? Das Bodendenkmal der Klosteranlage, und alles was wir durch die Grabungen erfahren werden, könnte potenziell richtungsweisender für die Blockentwicklung sein.

Die Schule, die die Mitte feiert

Schwarz-Schilling auf der Holzbank winkt ab, als es auf dem Podium um archäologische Fenster geht. Das mag ihr zu passiv sein. Für die Unternehmerin zählt der aktive Zug. So lese ich ihre Geste. Und dieser aktive Zug wäre nicht, der Archäologie die stille Bühne zu überlassen. Muss hier nicht vor allem Leben in die Bude?

Schautafel mit Architekturentwurf Klosterstraße

Imaginiertes Klosterareal auf Schautafel in Parochialkirche (Stiftung Mitte Berlin)

Dass eine Schule gebaut wird, steht im B-Plan. Dass das Traditionsgymnasium nach Mitte zurückkehrt, ist keine ausgemachte Sache. Brigitte Thies-Böttcher arbeitet im Förderverein seit Jahren daran, dass das passiert. Von dieser Mission wird im kommenden Jahr sicher viel zu hören sein, wenn das Gymnasium zum Grauen Kloster 450-jähriges Jubiläum feiert. Auch dann wird wieder ein Mitte-Fest stattfinden, bestimmt. Die Veranstalter werden vermutlich bemüht sein, Thies-Böttcher im Programm den Raum zu bieten, der ihrem Anliegen gebührt. Diesmal hatte sie ihren Vortrag extrem eindampfen müssen, nachdem ihr Vorredner extrem überzogen hatte. Sicher wollte sie mehr erzählen – von der Schule, die im Stande wäre, die Mitte zu feiern.

Ehrlich, aber es hilft nicht

Das ist der Standortvorteil der Wilmersdorfer. Sie sind die geistigen Erben des Ortes, der berühmten Berliner Geist hervorgebracht hat. Sie haben den Draht zu Schadow, Schinkel, Schleiermacher. Und sie haben den Draht zu Petra Kahlfeldt. Die Architektin und Berliner Senatsbaudirektorin erzählt auf dem Podium, zu den Schülern des Gymnasiums gehörten auch ihre eigenen Kinder. Außerdem habe sie an der Schule das Café mitaufgebaut.

Man kennt sich also. Die Baudamen kennen sich. Natürlich dürfen sie das. Sie dürfen sich kennen. Und sie dürfen auch miteinander feiern. Ich fürchte aber, Kahlfeldt hat mit ihrer Offenheit dem Rückkehrprojekt ganz lautlos den Riegel vorgeschoben – ohne es selbst zu wollen. Denn von nun an wäre die Legende vom heimkehrenden Gymnasium zum Grauen Kloster immer auch mit der Nebengeschichte versehen, die Senatsbaudirektorin installiere ihren eigenen Kiez im geliebten Berliner Stadtkern. Werden die Berliner jemals genug Lotos fressen können, dass sie diesen Privatstreich übersehen?

Obdachlose leben in Zelten im Umfeld der Klosterkirchenruine

Was ich mich sonst noch so frage:

  1. Ist das tapfere Gymnasium also dazu verdammt, nicht zum Grauen Kloster zurückkehren zu können, solange Petra Kahlfeldt im Amt der Berliner Senatsbaudirektion bleibt?
  2. Welchen Stellenwert besitzt die Rückkehr des Gymnasiums zum Grauen Kloster auf der Agenda Kahlfeldts gegenüber anderen Projekten im Berliner Stadtkern? Taugt sie (die Rückkehr) als potenzielles Lebenswerk der Architektin? (Das wäre schon eine starke Geschichte, finde ich.)
  3. Wäre die Senatsbaudirektorin ggf. dazu zu bewegen, ihr Amt aufzugeben, wenn Berlin die Rückkehr des Gymnasiums zum Grauen Kloster proaktiv und verbindlich zusagen würde?
  4. Welche anderen Schulen kämen für den Standort infrage, wollte man an die Geschichte der Franziskaner als Bettelorden anknüpfen?
  5. Kommt nicht sogar eine andere soziale Nutzung infrage?
Neun Karpfen in einem Teich

Berlins Katar

Ein Feature des RBB über die Großbaustelle am Potsdamer Platz findet im Januar mein Ohr und bringt mich zum Nachdenken. Besser gesagt, erstmal zum Staunen: So weit sind die 1990er Jahre weg! So vergessen sind die Menschen, die die Orte gebaut haben, die heute unser Alltag sind oder unser Beruf oder unser Vergnügen. Ich poste das Feature daraufhin mit Blick auf Katar, weil die Reportage dem Schicksal der Bauarbeiter nachspürt und schreibe, Berlin habe in Sachen Bauen seine eigene Miserengeschichte. Anschließend sehe ich mich mit dem Vorwurf konfrontiert, die Zustände auf den Baustellen Katars zu verharmlosen. Ich könne die Zustände auf den Baustellen Berlins nicht mit den Zuständen in Katar vergleichen, meint ein geschätzter Kollege. Ich finde aber, das sollte jemand mal tun.

Stadtbild Potsdamer Platz mit Renzo Piano-Tower, Helmut Jahn-Tower, dazwischen verdeckt durch historische Ampel: Hans Kollhoff-Tower

Uhrzeit, Arbeitszeit, Freizeit, Lebenszeit. Die Stechuhren tickten in den Baugruben am Potsdamer Platz eher nach dem Mond.

Jemand hat die Absicht, Berlin mit Katar zu vergleichen

Das Verrückte an Vergleichen ist, jeder versteht etwas anderes darunter. Damit fängt es schon mal an. Für mich ist ein Vergleich nicht dasselbe wie etwas mit etwas gleichsetzen. Deshalb verstehe ich auch die weit verbreitete Redewendung nicht, man könne Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Klar kann man das: Birnen sind unten dick und oben schlank. Bei Äpfeln versammelt sich das Fruchtfleisch mittig. Beide sind aber Obst, wachsen an Zweigen, haben mitunter die gleiche grün-gelbe Farbe, und essen kann man sie auch. Am Ende des Vergleichens tauchen vielleicht mehr Gemeinsamkeiten auf als Unterschiede. Deshalb lohnt es sich, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Es ist eine naheliegende und einfache Aufgabe. Schwieriger wird es mit Quitten.

Ich habe mir das Feature vom RBB also noch mal genauer angehört und die Infos aus dem Hörkanal auf Zeile gebracht. Dasselbe habe ich mit einer ARD-Doku zu den WM-Baustellen in Katar gemacht. Ich bleibe dabei, es ist eine einfache Aufgabe, allerdings eine einfache Fleiß(!)-Aufgabe. Beide Reportagen hier vor ab zum Nachhören und Nochmal-Hören:

RBB-Feature „Die Großbaustelle Potsdamer Platz“ von Paul Kohl vom 4. Januar 2023 (53 Minuten)

ARD-Doku „Die Toten“ (Episode 2 der Reihe „Katar – WM der Schande“, 30 Minuten), verfügbar bis 6.10.2024

Blick aus einem Fenster des Kollhoff-Towers auf den Renzo Piano-Tower und das Dach der Potsdamer Platz Arkaden

Blick vom Kollhoff-Tower Richtung Süden auf den Renzo Piano-Tower und das Dach der Potsdamer Platz-Arkaden. Rechts unten: Alte Potsdamer Straße zum Marlene-Dietrich-Platz

Zehren von Berliner Schrippen

Aus der RBB-Doku erfahren wir: Die Bauarbeiter vom Potsdamer Platz arbeiteten täglich 14 Stunden und mehr. Einer berichtet, sie hätten sogar nonstop 24 bis 27 Stunden gearbeitet, dabei zwei bis drei Stunden pro Nacht geschlafen. Kosten für Unterkunft und Essen werden ihnen vom Lohn abgezogen. Diese Abzüge betragen pro Monat bis zu 1.600 D-Mark. Heraus kommt ein Stundenlohn von 3,50 DM, wobei der Mindestlohn (auf 8 Stunden pro Tag bezogen) eigentlich 16 DM pro Stunde betragen sollte – auch für EU-Arbeiter.

Ob sie den Lohn am Ende überhaupt erhalten, ist nicht sicher. Ein polnischer Bauarbeiter, wie dessen Kollege berichtet, bekommt statt der verdienten 3.000 DM nur 1.300 DM ausgezahlt. Als er protestiert, wird er geschlagen. „Man konnte sehen, dass sein Gesicht war nicht korrekt“, berichtet der Kollege in Minute 29. Oder die Arbeitgeber zeigen die Bauarbeiter an, die sie selbst eingestellt haben. So befreien sich die Firmen von den Lohnzahlungen, entrichten lieber ein Bußgeld, das weniger beträgt als der Lohn. In osteuropäische Länder, aus denen viele der Subunternehmen heraus agieren, können Bußgeldbescheide nicht einmal zugestellt werden. Auf Razzien bringen die Bauarbeiter zwei Worte treffsicher heraus, die ihnen zuvor eingetrichtert werden: „Sechzehn“ (D-Mark) und „acht“ (Stunden pro Tag) – noch bevor sie gefragt werden.

Aufgerissene Fassade eines Bürogebäudes von Architekt Richard Rogers in der Daimler-City am Potsdamer Platz. Im Vordergrund aufgewühlter Boden der Grünanlage am Standort des ehemaligen Potsdamer Bahnhofs

Marode Grünanlage: Sinnbild für die heute unsichtbaren Fundamentarbeiten einer gefeierten Architektur: Der märkische Sand, ausgehoben und zubetoniert von Arbeitsmigranten, gebärt und trägt den Beton, den Stahl und das Glas des Potsdamer Platzes, hier eines Gebäudes von Richard Rogers.

Die Bauarbeiter kommen in Berlin in Containern unter. Zu sechst wohnen sie auf einer Fläche von acht mal vier Quadratmetern, sind ohne Strom und ohne Wasser, berichtet der Polnische Sozialrat (33. Minute). Die Toilette war draußen. Geschlafen wurde auch auf dem Bau, um wenigstens Kaffee kochen zu können.

Tote gibt es am Potsdamer Platz laut Doku nicht zu beklagen. Was der Sicherheitskoordinator von Debis beschreibt, klingt aber abenteuerlich: Bauarbeiter klauben sich die Bretter aus den Absturzsicherungen der Baustellen zusammen, um infolge systematischen Materialmangels Gerüste zu bauen. Ein anderes 25 Meter hohes Gerüst wiederum steht völlig frei, weil die Arbeiter die Gerüsthaltepunkte entfernt haben. Es gab Unfälle. Zwei deutsche Bauarbeiter sprechen aus, was sie über die ausländischen Bauarbeiter dachten (35. Minute):

„Wieder einer weniger, morgen kommen drei neue“

Ansicht der Alten Potsdamer Straße mit Restaurant am Potsdamer Platz 1. Davor die Einfahrt zur Tiefgarage mit an Geländern angeschlossenen Fahrrädern.

Die Adressbildung für einen zerstörten Ort in Berlin war erfolgreich. Aber sie hatte ihren Preis, und den haben Männer (und Frauen) aus Deutschlands europäischen Nachbarländern bezahlt

Sie würden behandelt wie Zwangsarbeiter, berichten die Deutschen. Das Frühstück: ein Brötchen, ein 0,2l Trinkpack. Schnellst- und Minimalversorgung:

„Da kommt der Vorarbeiter mit einer Bäckerkiste durch, verteilt und dann wird weitergearbeitet.“

Einer begeht beinahe Selbstmord. Er ist Landwirt, um die 50 Jahre alt, aus Portugal, spricht kein Wort Deutsch, besitzt kein Geld, als seine portugiesische Firma ihn nach einer Woche kündigt und unbezahlt in Berlin auf die Straße setzt. Verzweifelt klettert er auf einen Kran, verlangt 800 Mark für das Flugticket nach Hause. Oder er spränge aus 75 Metern Höhe, so der Bericht. Ein Dolmetscher geht hoch. Das Geld wird ihm zugesichert. Der Mann kommt nach zwei Stunden herunter.

Trauern in Nepal

Die Bauarbeiter unterliegen in Katar dem „Kafala-System“, wie Minky Worden von Human Rights Watch in der Doku beschreibt. Reisepässe werden beschlagnahmt, die Ausreise wird verweigert, wie auch der Wechsel des Arbeitsplatzes. Trotz neuer Gesetze und Reformen halten Missbrauch, Lohnbetrug und Todesfälle an.

So wartet der nepalesische Gastarbeiter, Dil Prasad, nach seiner Rückkehr in die Heimat auf vier Monate Gehalt. Andere Bauarbeiter warten bereits während ihres Einsatzes auf ihr Gehalt. Weil es ausbleibt, ernähren sie sich von Wasser und Brot. Offiziell beträgt ihr Lohn umgerechnet 2,55 Euro pro Stunde. Doch Zusatzzahlungen, z.B. für Überstunden, werden von der Firma gestrichen. Die Arbeiter protestieren. Die Firmen erlassen Streikverbote.

Buch auf orientalischem Teppich liegend: Cover mit Titel "Katar - Sand, Geld und Spiele". Ein Porträt. Autor: Nicolas Fromm, Verlag: C.H. Beck

Mittlerer Osten mitten in Berlin

In den engen und dunklen Unterkünften hausen die Arbeiter zu acht. In der Pandemie verbreitet sich Corona wie ein Lauffeuer. Um die eigene Bevölkerung zu schützen, riegeln die Behörden in Katar die Industrial Areas, in denen die Gastarbeiter leben, polizeilich ab. Sogar die Lebensmittelversorgung kommt zum Erliegen. Die Arbeiter erleben eine Ausgrenzung, die Nick McGeehan von FairSquare „Apartheid“ und strukturellen Rassismus nennt.

In Katar gibt es auf den Baustellen Tote. Eine offizielle Statistik, die in der Doku herangezogen wird, beziffert die Zahl gestorbener Arbeitsmigranten im Zeitraum von 2010 bis 2019 auf 15.000. Zum Leidwesen von FairSquare unterscheidet die Statistik allerdings die verschiedenen Berufsgruppen nicht, so auch nicht die Bauarbeiter. Nick McGeehan leitet dennoch „tausende Todesfälle“ daraus ab, seit Katar die WM bekommen hat: 9.000 Tote kämen aus Südasien, 78 Prozent der Toten seien Männer, und 70 Prozent der Todesfälle blieben ungeklärt. Offiziell, sagt die Fifa, seien nur drei Stadionarbeiter während der Arbeit verstorben. Darunter ist der Arbeitsmigrant Renuka Chaudhary, der aus der Höhe des Al-Janoub-Stadions stürzt und in Nepal Frau und Tochter zurücklässt. 35 weitere Fälle werden verschwiegen und nicht als Unfälle betrachtet, weil die Arbeiter nicht auf der Baustelle verstarben. Auffällig oft steht auf Totenscheinen die Todesursache Herzstillstand.

Brutal bauen

Noch nie habe ich in meinem Leben auf dem Bau gearbeitet. Allerdings habe ich Müll in die Verbrennungsanlage geschoben und bin auf dem Spargelacker Traktor gefahren (beides gegen relativ frische D-Mark). Der eine Arbeitsplatz hat mir gezeigt, dass ein Unfall nicht unbedingt dort geschieht, wo man ihn vermutet. Im zerfledderten Müll stehend trat ich auf meine Hacke, deren Stiel mir ins Gesicht schlug. Platzwunde. Was wenn ich bewusstlos aufs Förderband gefallen wäre und der Anlagenfahrer in dieser Nacht Tomaten auf den Augen gehabt und mich übersehen hätte? Und Hunger darf ich es nicht nennen, was ich an einem Tag auf dem Feld erfuhr. Tja, da vergaß ich meine Stullen und stand in der Mittagspause ohne Essen da. Meine Not schien mir so groß, dass ich nicht davor zurückschreckte, einen Freund anzurufen und ihn zu bitten, mir etwas zum Beißen zu bringen. Ich bin ihm heute noch dafür dankbar, wenn ich an die Situation denke. Nur Stullen, nur Spargel stechen. Dagegen: Von Schrippen leben auf dem Bau?

Wo Arbeit brutal ist, sollte man sie als Brutalität so stehen lassen. Sie ist gleich groß bei 50 Grad Celsius wie bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Sie ist gleich groß, wo körperliche Arbeit nicht mit warmer Mahlzeit vergolten wird. Für die Brutalität des Wohnens gilt dasselbe: Sie entwürdigt die sechs Menschen im Berlin-Container in gleicher Weise wie sie es mit den acht Menschen pro Raum in den Unterkünften Katars anstellt. Unter Lebensgefahr arbeiten, hungernd hausen, um Gehälter betrogen werden – in dieses Miseren-Dreieck der Arbeitsmigranten blicken die katarischen Gastarbeiter aus Nepal mit denselben zwei Augen wie die europäischen aus Polen, Albanien und Portugal, wenn sie sich auf die Baustellen ihrer Hoffnung und Verzweiflung begeben.

Neun Karpfen in einem Teich

Schwimmzeit, Lebenszeit. Ob die Karpfen im Piano-See am Potsdamer Platz arbeiten oder frei haben, lässt sich schwer sagen

Ja, es gibt Unterschiede:

  1. die Dimensionen der Tragödie,
  2. die Staatsform der Schauplätze,
  3. das Prestige der Projekte.

Alle drei Faktoren sind größer in Katar als in Berlin. Mehr zerstörte Biografien, mehr zentralisierte Macht, mehr zelebrierte Weltöffentlichkeit. Vermutlich deshalb blicken alle bevorzugt auf den Wüstenstaat, um die Ausbeutung von Arbeitsmigranten zu kritisieren. Dort gibt es die vielen Toten, hier keinen einzigen. Dort herrscht ein Monarch, hier streitet sich das Volk. Dort geht es um den Bau von sieben Fußballstadien, hier um die Wiederbebauung einer Kriegsbrache, die fast niemanden (auf der Welt) an die Decke springen lässt. Oder?

„Hier ist für viele Berlinerinnen und Berliner so etwas wie ein Wunder geschehen“.

(Eberhard Diepgen, damaliger Regierender Bürgermeister Berlins, am 2. Oktober 1998 bei der Eröffnung des Debis-Centers auf dem Marlene-Dietrich-Platz in Minute 30 der RBB-Doku)

Für größere Worte – oder sogar mehr als Worte – hat es beim CDU-Nachwende-Bürgermeister nicht gereicht. Jedenfalls wird nichts Bewegendes berichtet. Der Potsdamer Platz, ein Wunder? Diepgen hatte wahrscheinlich noch den Fall der Mauer vorm Auge, als er die Rede hielt. Die Rückkehr des Potsdamer Platzes ist kein Wunder. Denn das, wofür er im alten Berlin stand, ist mit der Wiederbebauung ja nicht zurückgekommen. Oder Diepgen kannte die Kletteraktion des portugiesischen Bauers hinauf auf den Kran. Dann kann man es ruhig ein Wunder nennen, dass die prominente Adresse mit keinem Menschenleben bezahlt werden musste. Denn hätte Diepgen denn von einem Wunder auch dann noch sprechen dürfen, wenn der verzweifelte Mann gesprungen wäre? Und hätte Daniel Barenboim an dem Tag sein Kranballett dirigieren wollen, wenn einer der 19 Baukräne zuvor zu einem Sprungbrett in die Grube zweckentfremdet worden wäre? Der Potsdamer Platz hat – in der Statistik – nur Glück gehabt.

Blick vom Kollhoff-Tower nach Osten auf den Leipziger Platz. Im Bild links: Vergoldeter Pfeiler der Hochhauskrone an der Panorama-Etage des Kollhoff-Towers

Blick vom Kollhoff-Tower nach Osten auf den Leipziger Platz. Im Bild links: Vergoldeter Pfeiler der Hochhauskrone an der Panorama-Etage

Think global, act local

Ist es nicht zehnmal mehr wert, die Ausbeutung von Arbeitsmigranten in Berlin und Europa zu betrachten als die in Katar? Denn es heißt doch: „Think global, act local!“ Wir betrachten das gleiche Phänomen, aber in Berlin sehen wir das Produkt, den Potsdamer Platz, täglich. Nutzen es, zeigen es, verkaufen es. Sollten wir Besuchern nicht vielmehr über die Gewerke und Herkünfte der Gastarbeiter erzählen als über die Lebenswerke von Kollhoff & Co.? Und auch, weil wir in Europa die Mittel zu haben glauben, um die Unterdrückung der Arbeiter zu verhindern. Sie findet in einer freiheitlichen Gesellschaft statt, nicht in monarchischen aussichtslosen Strukturen. Die Bauarbeiter der Hauptstadt haben Rechte. Allerdings gibt die Doku eine Ahnung davon, dass Recht ohne angemessene Exekutive beinahe wertlos ist oder zumindest wirkungslos. Gleichzeitig zeigt sie, dass auf anderer Ebene als den Arbeitsschutzgesetzen wiederum entscheidende Gesetze noch fehlen (Generalunternehmer-Haftung, 49min.). Das heißt, die Exekutive ist schwach, die Legislative bleibt (vermutlich immer) unzulänglich, da zu langsam. Da mag sich der katarische Emir womöglich die Hände reiben, denn er hält beide Gewalten in einer Hand.

Wagins Baum

Als ich 1997 nach Berlin kam, zog ich in eine Studentenwohnung in Siegmunds Hof. Das ist kein Hof. Das ist eine Straße in Tiergarten, die eigenartig schräg nach links von der Bachstraße abgeht und Richtung Spree führt. Die S-Bahnstation Tiergarten befindet sich hier. Von dort, auf dem Bahnsteig stehend, war der „Weltbaum“ an der Brandwand des gegenüberliegenden gelben Altbaus am schönsten anzusehen. Das Mural von Ben Wagin war schon damals nicht mehr ganz beisammen. Es blätterten die Farben ab, der Baumstamm grade noch zu erkennen, auch der Motorradauspuff. Das Schiff mit den fünf markanten Bäumen war schon fast völlig verschwunden. Das Bild erstreckte sich bis unters Dach des Hauses und grüßte bis in die Straße des 17. Juni. Jeden Tag kam ich an ihm vorbei. Wirklich betrachtet, hatte ich es damals nicht.

Weltbaum mit Ablegern

Erst als das Mural vor ein paar Jahren verbaut wurde und Streetartisten es in der Lehrter Straße kopiert hatten, nahm ich mir Zeit für Wagins Kunstwerk. Der neue Standort schien besser als der alte. Die blanken Vollrohrrutschen des Spielplatzes an der Lehrter Straße wirken als würde der gemalte Auspuff aus dem Bild herausspringen, weil sich beides überlagert. Das ist genial. Umso mehr überzeugte mich die Wandbildkopie, in dem sie sogar von der Heidestraße in der Europacity zu erkennen war. Wagins Weltbaum strahlte weiter als jemals zuvor. Das ist nun wieder anders, nachdem die Blöcke in der nördlichen Heidestraße ihre geplante Höhe erreicht haben. Schade, aber schon okay.

Am S-Bahhof Tiergarten verbaut und in der Lehrter Straße von Künstlerin neu gemalt

Wie überraschte mich da ein neuer Weltbaum, als ich vor kurzem mit Gästen aus dem Hansaviertel kommend Richtung Bachstraße radelte! Ich dachte, der Weltbaum sei am Ursprungsort tot. Weit gefehlt, denn da war er noch. Da war er wieder. Eine Miniatur hängt in der Joseph-Haydn-Straße am Bahnviadukt, und ich hatte sie nicht gesehen, als ich im September mehrmals auf dem Weg von Charlottenburg nach Mitte von der Bachstraße über die Joseph-Haydn-Straße zur Klopstockstraße durch den Viadukttunnel gefahren war. Ich kam einfach aus der falschen Richtung.

Es gibt also zwei Orte, an denen Ben Wagins Weltbaum weiter wächst. Und natürlich wachsen seine Weltbäume vor allem im „Parlament der Bäume“, wohin ich es an einem Sonntag im August endlich mal schaffte. Während mein fünfjähriger Sohn mit dem Gartenschlauch spielte, unterhielt ich mich mit einem Baumpaten. Die Baumpaten kümmern sich um die Pflanzen dort. Ein ausgewachsener Baum bräuchte etwa 300 bis 500 Liter Wasser pro Tag, erzählte er mir. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber ich glaube, er sagte sogar: pro Quadratmeter. Jetzt stehen im „Parlament der Bäume“ mehr als nur ein Baum. Schlagartig wurde mir klar, dass dieser Ort in zwanzig Jahren verschwunden sein wird. Ein einziger Gartenschlauch… Der Baumpate erzählte weiter vom Wetter, das nach Norden zöge und sich über der Nordsee abregnete, vom Grundwasser, das sich absenkte; sprach von einer Freundin im Alter von irgendwas über 80 Jahren, die mal zu ihm gesagt hätte: „Na Gott sei Dank, dass ich das alles nicht mehr erleben werde.“ Der Baumpate hatte mit ihr über die Dürre-Zukunft in Deutschland geredet. „Doch, Du wirst es noch erleben“, hatte er erwidert. Es kann also schneller (zu Ende) gehen als in zwanzig Jahren. Mit den Bäumen und mit uns.

Neuer Weltbaum in der Lehrter Straße, Spielplatz

Miniermotten und Missverständnisse

Eine andere Art „Baumpatin“, die allerdings nicht mehr alle beisammen hatte, traf ich neulich ganz unverhofft. Sie kehrte die Blätter einer hochgewachsenen Kastanie zusammen, als ich über einen Hinterhof lief, um meine Tochter von ihrer Freundin abzuholen. Ich solle doch bitte mithelfen, die braunen Blätter einzusammeln. Nein, „bitte“ hatte sie nicht gesagt. Wäre aber schön gewesen. Ich blieb stehen und hörte zu, als sie mir den Lebenslauf der Miniermotte erklärte. Fand ich toll. Ich hatte aber keine Zeit. Es stellte sich heraus, dass die Gute die Eigentümerin des Hauses war. Ebenso stellte sich heraus, dass es ihr scheinbar völlig egal war, dass ich nicht Mieter, sondern Besucher des Hauses war und auf dem Sprung. Dieser Baumpatron forderte von mir eine Aktion ein, die nicht auf meiner Liste stand. Es war doch nicht Sonntag. Als ich später mit meiner Tochter aus dem Quergebäude kam, schlug ich der Frau vor, ein Hoffest zu veranstalten und die Bewohner einzuladen. Leider war sie unzugänglich wie der London Tower nach 18 Uhr. Ein Baum hatte uns auseinander gebracht.

War ich denn für den Baum verantwortlich? Wenn es in diesen Septembertagen einen Berliner Baum gab, für den ich mich verantwortlich fühlte (und zwar als Tourguide), dann war das die nordamerikanische Roteiche am Teehaus im Tiergarten. Queen Elisabeth hatte sie dort im Frühling 1965 gepflanzt. Der Baum lag auf der Route gleich zweier Radtouren, und die gestorbene, damals noch nicht bestattete Königin war infolge des Medienrummels in allen Köpfen. Dieser Baum ist bemerkenswert, denn ihm wurde bereits in jüngsten Jahren das Rückgrat gebrochen. Berliner knickten den Stamm um, nachdem der Polizeischutz abgezogen war (siehe B.Z. und Tagesspiegel). Ein Meistergärtner operierte das drei Meter hohe Pflänzchen, das wieder vollständig genas. Die Narben sollten wir heute noch sehen. Doch ich fand sie nicht an dem Baum. Ich hatte den Gästen die falsche Eiche präsentiert. Ein Kollege half mir, den Irrtum aufzudecken (Danke, Alexander!). Die echte Eiche steht zwanzig Meter weiter östlich. Ich hatte daneben gegriffen. Wollte ich wirklich für einen Hofbaum sorgen, müsste ich viel lernen. Ich wusste ja nicht einmal, wie eine nordamerikanische Roteiche aussah.

Weltbaum-Miniatur am Bahnviadukt in der Joseph-Haydn-Straße

Ein Event und seine Früchte

In der Urania, am Donnerstag, den 22. September, beim „Stadt im Gespräch“, habe ich tatsächlich einiges gelernt. Die Lage in den Grünflächenämtern der Bezirke ist eine Katastrophe. Oliver Schruoffeneger (Grüne), Bezirkstadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf, machte deutlich, dass mit zu wenig Mitarbeitern und zu wenig Geld zu große Aufgaben erledigt werden müssen – und zwar seit zwanzig Jahren. Die Bezirke haushalten mit Budgets, die gerade soweit reichen, den Müll wegzuräumen. Das heißt, der Umbau der Stadt zu einer klimaangepassten Metropole ist bei diesen „großen Aufgaben“ noch gar nicht mit eingerechnet. Es geht bisher um den schlichten Erhalt der Grünflächen. Ob darüber hinaus der Umbau der Stadt erfolgreich sein wird, entscheide der Einsatz der Ressourcen.

Auch Darla Nickel, Leiterin der Berliner Regenwasseragentur, betonte, dass der Grünflächenerhalt das zentrale Problem sei. Froh hat mich gestimmt, wie sie Berlin als Experimentierstadt ins Feld führte, als die Perspektiven von Schruoffeneger und einem Senatskollegen gerade sehr pessimistisch wurden. Sie hatten sich über rechtliche Fallstricke geärgert, die ich hier nicht ausführen will (sie verdienen einen eigenen Artikel, vielleicht ein ganzes Buch). Aber Nickel, die mit ganz leichtem Englisch-Akzent sprach, vermochte mit ihrem Statement die Blickrichtung im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf grün zu stellen. Es passiere viel, und wir hätten in der Stadt kein Umsetzungsproblem, sondern ein Umsetzungsgeschwindigkeits-Problem. Danke für diese genaue Beobachtung.

Verbautes Stadtbild durch den HGHI-Tower an der Bachstraße, 2022

Und dann Antje Backhaus, Landschaftsarchitektin, mit ihrem Weckruf, Regenwasserbewirtschaftung sei total einfach. Es beginne damit, das eigene Regenwasserrohr umdrehen, damit das Wasser dorthin fließt, wo es gebraucht wird. Auch sie war durchweg positiv gestimmt, wenngleich sie Berlin als etwas schwerfälliger wahrnimmt und Experimentierfreudigkeit vor allem in dänischen Städten vorgeführt bekommen hat, wie sie erzählte. Das hat sie von den Kollegen aus dem Norden mitgebracht, dass man „einfach mal machen muss“ – eine Formulierung, die Oliver Schruoffeneger sicher wieder mit einer bizarren Anekdote aus dem Grünflächenamt parieren könnte.

Unsere Ulme

Wenn es also einen Baum in Berlin gibt, für den ich mich verantwortlich fühle, dann ist es die große Ulme auf meinem Hof. Über sie wird noch zu schreiben sein, glaube ich. Nur soviel vorweg: Der Baum steht am Schnittpunkt dreier Grundstücke in einem relativ freien Hinterhof-Gelände. Ein Brombeerstrauch wächst neben ihr am Boden. Krähen haben in der Krone gerade ein neues Nest gebaut. Die Traufen von drei Gründerzeithäusern sind gerade mal eine Armlänge oder zwei von den Ästen und Zweigen der Krone entfernt. Als ich mir das ansah, fragte ich mich, warum wir überhaupt die zwanzig Meter langen Regenrinnen an die Hauswände klemmen. Die Traufen sollten ins Zentrum der Krone verlängert werden, mit Schläuchen oder so. Und dann der Schock: Die Regenrinnen münden ins Unterirdische, auch die Regenrinne an meinem Haus. Einfach umdrehen? Das Experiment ist erstmal gescheitert. Eine Stadt umdrehen, das ist eben mehr als ein Experiment.

Noch ein Veranstaltungshinweis zum Thema

Mi, 28. September 2022, 11 Uhr
Beginn der Baumfällsaison 2022
Pressegespräch des Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung.
Ort: Kulturmarkthalle, Hanns-Eisler-Str. 93, 10409 Berlin.
nachhaltigestadtentwicklung.berlin

Links

B.Z. v. 10.09.2022: Diese Eiche pflanzte die Q…

Tagesspiegel v. 22.06.2015: Queen in Berlin: Majestätisch gewachsen

Evers Garten

Die Berliner Christdemokraten werden immer sympathischer. Zumindest einer, weil er sogar die Bildung von neuem Volkseigentum unterstützt. So äußerte Stefan Evers, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus Berlin, Anfang Juni beim Gartengespräch des Flussbads sein Belieben, den Garten des ehemaligen DDR-Staatsratsgebäudes in Mitte, also den heutigen Garten der European School for Management and Technology (ESMT) in eine öffentliche Grünanlage umzuwandeln.

Eine Öffnung des Privatgartens hat ja schon stattgefunden. Wenn der Flussbad-Garten (also Garten Nr. 2) geöffnet hat, macht auch die ESMT eine Pforte im Zaun Richtung Spreekanal auf. So gelangt man, wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, von dem einen Garten (Nr. 2) in den andern (Nr. 1). Natürlich muss ich an dieser Stelle den Garten der ESMT als Garten Nr. 1 bezeichnen. Denn ohne die ESMT, die einen Teil ihres Gartens dem Flussbad-Projekt überlässt, gäbe es den Garten des Flussbads nicht.

Eine Gartenpforte auch nach Süden bitte!

Der Zaun verläuft an der Westseite des ESMT-Grundstücks, ein paar Meter zurückversetzt, sodass sich der Flussbad-Garten vor ein paar Jahren dort einrichten konnte. Die Pforte ist hier, die Gartenpforte. An der Ecke zur Sperlingsgassse biegt der Zaun Richtung Breite Straße nach Osten ab, ohne nochmals eine Gelegenheit zum Eintreten zu geben. Büsche sind ums Eisen gewachsen und schotten Garten Nr. 1 nach Süden zur Scharrenstraße ab. Mein Gott, das wird einmal die Einflugschneise ins Gotteshaus sein, ins House of One! Unterwegs dorthin, käme man am Nicolaihaus vorbei und an der Landesvertretung Sachsens, deren Staatsflagge vom ESMT-Garten aus sichtbar ist. Nur durch müsste man können, durch den wild umwachsenen, schönen und kostbaren Naturzaun, von mir aus auch drüber.

Da sieht man, wie genial die Idee von Stefan Evers ist. Der Garten der ESMT ist ein Puzzle-Teil mit drei Gelenken. Eins verbindet das Kanalufer westlich. Ein zweites verbindet den Garten mit den neuen Highlights von Alt-Cölln (House of One und Archäologisches Zentrum am Petriplatz). Ein drittes Gelenk knüpft östlich (eigentlich sind es zwei dritte Gelenke) an die Breite Straße an und damit an die Stadtbibliothek und (etwas nördlicher) an das Humboldtforum. Die Unterführung durch das Nebengebäude der ESMT entlang der Breiten Straße verlöre ihren Betriebshof-Charakter, würde hier das Tor aufgerissen. Dear Mr. Evers, open this gate!

Aber wie will er das eigentlich machen? Und was ist aus der Sache mit dem Studentenwohnheim geworden, das dort vor Jahren im Garten gebaut werden sollte?

Noch ein Privatgarten: das Magnus-Haus

Die Konstellation erinnert mich ein bisschen an das Magnus-Haus (mit Garten), weiter unten am Kupfergraben, gegenüber dem Pergamonmuseum. Garten Nr. 3 wäre der Standort der Siemens-Repräsentanz geworden, eines Neubaus, wenn nicht ein Wunder geschehen wäre. Das Wunder geschah, und das letzte barocke Stadtpalais in Mitte bleibt unbebaut und darf weiter für Siemens grünen. Alles privat, auch hier. Das Schönste Berlins scheint immer Privatsache zu sein.

Könnten wir nicht auch den Magnus-Haus-Garten öffnen? So zwischen Collegium Hungaricum und Maxim-Gorki-Theater, dazu die Humboldt-Uni, würde es sich doch wohl prima lesen, lernen und liegen lassen. Noch so ein Puzzle-Stück dieser Garten Nr. 3.

Und wenn dann letztlich noch das Flussbad selber kommt, dann ist die Verbindung der Gärten vollkommen. Beten gehen, Bücher ausleihen, durch Garten Nr. 1 ziehen, in den Garten Nr. 2 hinein, dort einen Kaffee trinken, dann ins Kanalwasser steigen, zum Magnus-Haus schwimmen, aus dem Kanal klettern, in Garten Nr. 3 ausruhen, Siemens für die noch zu tätigende Geste danken, ins Gorki-Theater gehen. Die Stadt braucht mehr Gartengespräche (das nächste findet statt am 7. Juli 2022, siehe https://www.flussbad-berlin.de/)

Lüschers Steg

Der Golda-Meir-Steg führt vom Kieler Eck über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in die Europacity hinüber. Die Fußgänger- und Radfahrerbrücke trägt den Namen einer israelischen Ministerpräsidentin und wurde am 8. Dezember 2021 anlässlich ihres Todestages eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Regula Lüscher Berlin bereits verlassen. Im Sommer hatte die Ex-Senatsbaudirektorin sich nach 14 Jahren aus ihrem Amt verabschiedet. Zuvor posierte sie an dem Steg. In ihrem Werkschau-Film „Bauen für Menschen“ steht Lüscher am Kanalufer, gekleidet in einen frühlingshaften Mantel, der auf phänomenale Weise die Farbe des Stegs aufnimmt, eine Mischung aus Ocker, Olivgrün und einem Goldgelb, das der Mantel aus dem Hintergrund nach vorne holt, in der Bildfläche aufweitet, verstärkt und mit weiteren Bildelementen, dem Gelb eines Baukrans, dem Rotblond der eigenen Frisur, ja sogar mit Lüschers Brille verschmilzt und als eine Art Gemeinwesen erkennbar macht. So resümiert die Architektin die eigene Ära.

Goldener Steg: Auf der Westseite des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals sind neue Wohnbauten der Europacity zu sehen

Mir gefällt das. Mir gefällt auch, wenn jemand einen Ort abfotografiert, bevor er oder sie über ihn redet. Regula Lüscher hat das 2009 getan, als sie die Debatte ums Rathausforum einleitete. Ich mochte auch ihren kühlen Kopf. Eine Lüscher, die laut wurde, habe ich nirgends erlebt. Ich mochte auch den Dialekt, mit dem sie sprach. Lüschers Schweizerisch hatte etwas Unterhaltsames. Es erfrischte. Wörter wie „Detail oder „Beton“, bei denen sie die erste Silbe betonte statt der zweiten, besaßen einen technischen Effekt. Sie werden mir fehlen, wenn ich bei Diskussionsveranstaltungen einzuschlafen drohe.

Früher Turmrummel und Weite

Der Steg steht für die Epoche Lüschers. Es gab ihn nicht, als sie 2007 nach Berlin kam. Wohl aber den Mann am Turm. Bei Sonne auf einem Gartenstuhl, bei Regen in seinem Auto, saß Jürgen Litfin täglich am Kieler Eck und wartete auf Besucher. Der Mauerzeitzeuge, dessen Bruder Günter 1961 als erster Berliner an der Sektorengrenze erschossen wurde, schimpfte in der mit eigener Hand aufgebauten Gedenkstätte, dass die Wände wackelten. Da war Leben in der Bude, während sich auf dem Westufer des Kanals noch die unbebaute Weite eines ehemaligen, in Vergessenheit geratenen Bahngeländes aus der Vorkriegzeit auftat. Kein Gast wusste, wo er war. Der Blick ging frei nach Moabit bis zum Poststadion, unterbrochen nur durch die Heidestraße, auf der erkennbar Autos fuhren, und durch die Bahntrasse, auf der ICE-Züge in den Tunnel zum Hauptbahnhof eintauchten. Das Beben im Turm ist seit 2018 vorbei. Jürgen Litfin ruht auf dem Domfriedhof an der nicht weit entfernten Liesenstraße. Die Europacity ist aber zum Leben erwacht, als hätte der Golda-Meir-Steg vor Ort die Ladungen vertauscht.

Europacity, Heidestraße

Aussicht auf die „Mondlandschaft“ Heidestraße vom 16. Stock des Total-Towers, Herbst 2012 (Foto: André Franke)

Die Europacity, sollte es sich bei dem neuen Stadtteil wirklich um gebautes Leben handeln, fristet 2022 ein Dasein, das einem Menschen in Quarantäne gleicht. Sie kommt nicht aus sich heraus. Als stünde da ein Kranker kraftlos am Fenster. Es genügt, ihm vom gegenüberliegenden Bürgersteig zuzuwinken. Dann fahren wir fort. „Es ist ein grauenvoller Ort“, sagt Architekt Hans Kollhoff. Die ehrliche Erbostheit des Mannes in einem Interview der Veranstaltungsreihe „Unvollendete Metropole“ rüttelt in mir großes Bedenken wach.

  1. Kann der Bau schlechter Stadt als moralisches Verbrechen gelten?
  2. Kann ein gutes Urteil über eine schlechte Stadt Verrat am Berufsstand sein?
  3. Wann wird guter Städtebau ein Menschenrecht?

Tatsächlich kenne ich niemanden, der von der Europacity sagte, sie sei doch ganz schön geworden. Kollhoff zu diesem Geschmack:

„Das kann nur jemand sagen, der vollkommen abgestumpft ist. Wo die Abstumpfung ein Niveau erreicht hat, dass eigentlich in der Gesellschaft wie der unseren nicht zulässig sein sollte.“

Das sagt der Architekt über die Architektin (in Minute 16 und 17 eines Interviews, siehe unten).

Positiv gelesen, stecken darin zwei Botschaften: Städtebau ist kein Zuckerschlecken und Kollhoff kann es besser. Auch die Frage: Warum hat keiner Lüscher früher in den Ruhestand versetzt?

Alter Grenzturm, neue Kanalbrücke. Jürgen Litfin erlebte das nicht

Die betonlenkende Architektin mit dem Sinn fürs Detail leitete Berlins Senatsbaudirektion unter fünf verschiedenen Stadtentwicklungssenatoren und -Senatorinnen: Ingeborg Junge-Reyer (SPD), Michael Müller (SPD), Andreas Geisel (SPD), Katrin Lompscher (Linke) und Sebastian Scheel (Linke). Lüschers Steg in Berlin – im Sinne eines Karriereweges von 2007 bis 2021 – gelangte zu einer bemerkenswerten Länge. Länger hatte das Amt nur Hans Christian Müller von 1967 bis 1982 in Berlin-West inne.

Im Bürogebäude in George-Stephenson-Straße spiegelt sich der Blick zur Lehrter Straße in Moabit

Kahlfeldts Chance

In der Europacity steht der Bau eines zweiten Stegs aus. Er ist, ebenfalls als Fuß- und Radverkehrsbrücke, jenseits der Heidestraße geplant, um die Bahntrasse zu überwinden. Dann wird der Stadtteil an die Lehrter Straße in Moabit angeschlossen und die ganze Europacity bekommt eine Ost-West-Durchquerung. Es wird der Steg der Petra Kahlfeldt sein, Berlins neuer Senatsbaudirektorin. Aber das ist schon eine Formulierung, die in die Irre führt. An der Europacity wird Berlin Kahlfeldts Wirken nicht messen. Oder etwa doch? Bestandsentwicklung soll Kahlfeldts Stärke sein.


LINKS

Stimmanns Straße

Natürlich ist es seine Straße. Natürlich ist die Friedrichstraße ein Werk Hans Stimmanns. Denn er hat den Weiterbau, Wiederaufbau, Umbau der Straße als Senatsbaudirektor ja selbst mitgestaltet. Insofern muss seinem Artikel, der am Montag im Feuilleton der F.A.Z. zu lesen war (und für den ich die drei Euro Printpreis ausgesprochen gerne bezahlt habe, denn ich ahnte, was mich erwartete), eine Reizung vorausgegangen sein: Und wen reizt sie nicht, die neue „Flaniermeile“, von der niemand mit Gewissheit sagen kann, ob die Friedrichstraße nördlich der Leipziger nun eine Begegnungszone, Fußgängerzone, Radbahn, einen Shared Space, verkehrsberuhigten Bereich, eine temporäre Spielstraße, einen Kunstmarkt, Streetfoodmarkt oder das Choriner Straßenfest aus Prenzlauer Berg darstellt.

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Korona küsst Schlosskuppel

Dass ich heute Morgen vor die Tür ging, war ein Akt der Notwendigkeit – und gleichzeitig ein Geschenk. Ich stieg vom Fahrrad, als ich diese Sonne sah. Eigentlich keine besonders besondere Sonne. Für einen Sonnenaufgang war es zu spät, für den Untergang viel zu früh, noch nicht mal Mittag. Wolken zogen an dem weißen Ball vorbei, ziemlich zügig. Mal ließen sie mehr Licht durch, mal weniger. Und wenn der Schleier stimmte, nicht zu dick, nicht zu dünn war, dann konnte man klar die Konturen sehen, die Konturen des großen Balles. Ist das nicht selten? Ist das nicht schön? Wenn so eine Übergröße ins menschliche Auge passt, können wir dann nicht auch alles andere begreifen, was uns unbegreiflich erscheint?

Kuppel statt Klotz: Mehr runde Formen in der Architektur wagen!

Das Bild, das ich sah, war kein reines Naturschauspiel. Es war eine Berlin-Kontur. Dem Rund des Sonnenrandes stand das neue Rund der Schlosskuppel gegenüber. Und ich begriff, die Kuppel ist gut. Und ich dachte, wir bauen zu wenig runde Formen. Es gibt zu viele Ecken und Kanten in der Stadt, zu viele Optionen, sich zu stoßen und zu schneiden. Da ich gerade aus der Gegend am Spreebogen kam, wo ich mich einem Schnelltest unterzog, steckte mir noch der neue Glaskubus vom Washingtonplatz wie ein Eissplitter im Auge, wie der Splitter im Auge von Kai, den die Schneekönigin verzauberte. Diesem Glaskasten am Hauptbahnhof wächst so eine angriffslustige, abgeflachte Pyramidenspitze aus der Fassade, dass ich seit heute fest davon überzeugt bin, die Architekten haben das Ding im Anblick ihres Weihnachtsbaumes entworfen, im Homeoffice, als Homeoffice noch exotisch war. Aber dort gehört dieser kälteeinflößender Eiswürfel hin: an den Weihnachtsbaum, wo es warm ist. Und weg schmilzt er.

So gewann ich plötzlich, auf der Eisernen Brücke stehend, bereit für den Befund, den Sinn für das Runde am Himmel über die von Reif überzogene Berliner Mitte, wo Architektur und Astronomie einen Augenblick lang zu Schwestern wurden. Und als hätten auch sie es begriffen, schrien die Möwen in den kalten Dezembermorgen hinein. Wahrscheinlich hatten sie aber nur Hunger. Die Kuppel des Schlosses hat mich schon öfters überrascht. Bisher hab ich nichts dazu geschrieben. Und das will ich damit sagen: dass eine Art Perspektivensammlung aussteht, die zeigt, dass die Schlosskuppel die Blicke auf die Mitte Berlins bereichert. Demnächst also…

Botschaften aus dem Bezirk Spandau

Auch wenn Serien schön sind, wem gelingt es schon, einer vom ersten Teil bis zum letzten zu folgen, wenn man nicht entschieden immer zur selben Zeitung greift, immer im richtigen Moment, am richtigen Tag – oder überhaupt nicht? Es ist immer noch „Groß-Berlin“-Jahr, und die B.Z. macht eine Serie dazu, die Morgenpost ebenso. Und weil ich am Sonntag in einen anderen Bäcker ging als sonst, einen, der tatsächlich nur Morgenpost im Ständer hatte, erwischte ich die Sonntagsbeilage der Mopo, die „Berliner Illustrirte Zeitung“, in der Groß-Berlin jede Woche Thema ist. Eine Reihe von Zitaten lässt Felix Müller in dem Artikel über „Spandaus Sonderweg“ aus der Feder fließen (im Falle der Zitadellenstadt Spandau könnte man auch sagen, der Autor feuert aus allen Rohren), um den Widerstandsgeist der Nicht-Wahlberliner vor und nach der Eingemeindung zu Groß-Berlin 1920 darzustellen. Wie im „Skyscraper“ angekündigt, folgt hier das, was die sechs zitierten Herren im Einzelnen von sich gaben:

Eine Stadt mit Zitadelle wird immer ein Bollwerk sein

Emil Müller, Spandauer Stadtrat und Maurermeister, bei der Grundsteinlegung des Rathauses am 3. April 1911:

Mög´schützen uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband.

Hermann Kantorowicz, Spandauer Armenarzt und Kommunalpolitiker, 1913:

Dass wir vom Zweckverband an der Nase herumgeführt werden, muss doch jeder sehen.

Heinrich Jenne, Spandauer Stadtverordneter, 1918:

Was Spandau bei Groß-Berlin soll, ist nicht recht klar.

Kurt Woelck, letzter Spandauer Bürgermeister, 1919:

Wir stehen hier auf dem Standpunkt, dass diese restlose Eingemeindung nur Nachteile für uns bringt und ein Unglück für Spandau darstellen wird.

Martin Stritte, Spandauer Bezirksbürgermeister, 1923:

Die Spandauer haben es nicht gelernt, sich als Berliner zu fühlen und sie werden es in absehbarer Zeit nicht lernen.

Stritte, nochmals:

Die Spandauer sind stolz auf ihre eigene Geschichte und Entwicklung, die älter sind als diejenigen Berlins, und sie werden den Raub ihrer Selbständigkeit immer als Vergewaltigung empfinden.

Günter Matthes, Redakteur des Tagesspiegels, bei der 750-Jahrfeier von Spandau, 1982:

Als die Berliner noch Kaulquappen fingen, waren die Spandauer schon Patrizier.

Blick vom Ufer der Havel auf den Rathausturm

Was folgern wir aus diesen Sätzen und wie lesen sie sich aus der Perspektive von heute? Die Hand Wilhelms II. konnte die Berliner nicht abhalten, über die Havel zu setzen; der Arm, an dem sie hing, war schlichtweg zu kurz, dass er hätte von Utrecht in die Deutsche Republik gereicht. Spandauer und Berliner dürften wohl quitt sein, nachdem Eberhard Diepgen, Ur-Spandauer, als Regierender Bürgermeister eine Zeit lang die Berliner an der Nase herumführen durfte. Heinrich Jenne scheint damals offenbar der Blick auf die regionale Landschaft verstellt gewesen zu sein; was Spandau bei Berlin soll, das ist doch ganz klar: das Wasser der Spree in die Havel aufnehmen. Auch würde wohl jeder Spandauer es als Glück begreifen, nicht als Unglück, nach 1945 nur von Franzosen besetzt worden zu sein, und nicht von den Sowjets; krasse Vorstellung, der Mauerweg verliefe dann auf der anderen Seite, entlang Charlottenburgs. Stritte kann hingegen nicht bestritten werden, denn in drei Jahren Zeit (1920-23) wechselt kein Mensch seine Identität; dankbar muss man ihm für die harten Worte sein, die doch daran erinnern, dass es politische Gewalt auch in parlamentarischen Systemen gibt, und die Schwächeren die exekutiven Folgen womöglich als Unrecht wahrnehmen. Und aus dem Matthes-Spruch, auch wenn er aufgrund seiner Überzogenheit einen gewissen Reiz hat, quilt eine etwas verzweifelt wirkende Überheblichkeit heraus, in die sich bestimmt nur jemand hineinbegeben konnte, der zwischen sich und den Berlin-Cöllnern die Mauer zu verorten wusste. Die Botschaft von der durch und durch zivilisierten Stadtgründung (es waren ja sogar zwei, gleichzeitig) ließe sich heutzutage ganz barrierefrei in den Bezirk Spandau tragen.

 

Pop Up and Go!

Futurberlin freut sich mit allen Berliner Autofahrern und Autofahrerinnen auf die Eröffnung der Pop-Up-Radwege an den Ufern des Landwehrkanals in Kreuzberg! Ich formuliere das in dieser Art, um daran zu erinnern, wie dreist Audi im Jahre 2011 die Eröffnung der Humboldt-Box begrüßte: Audi freue sich mit allen Berlinern und Berlinerinnen, behauptete der Autobauer damals und ließ es auf die Wände der Box drucken. Ich stand davor und wollte schreien: Nicht mit mir!

Meckern vom Pop-Sofa

Jetzt „poppt“ am Tempelhofer Ufer fast zehn Jahre später die bessere Seite der Stadt auf, und Audi & Co. schreien. Der ADAC beschwört Weltuntergangsstimmung in Kreuzberg und Friedrichshain, weil die Exekutive Gesetze umsetzt, weil Felix Weisbrichs Straßenamt die Radwege baut, die das Mobilitätsgesetz verlangt. Der Autoclub stellt sich an die Straßen, zählt auf eigene Faust den Verkehr und schreit zum Himmel, das Handeln der Verwaltung sei nicht repräsentativ. Hat der Club die Verkehrswende verschlafen? Sie ist längst legitimiert. Oder will er bloß ordentlich Stimmung machen? Dabei zieht er auch das Thema der Zeit an den Haaren herbei. Der Bezirk nutze die Gelegenheit, weil jetzt, in Zeiten von Corona, alle Straßen frei wären. Der ADAC sollte Xhains Radwegehelden dankbar sein, dass sie den Autofahrern die Möglichkeit lassen, aus der Distanz heraus nachzudenken, welche Wege sie mit welchen Verkehrsmitteln nehmen, wenn auf Berlins Straßen wieder Normalität einkehrt. Der Bezirk könnte die Radwege auch bauen, während die Blechlawine rollt und unter den Live-Schmerzen der alternativlosen Verhinderung vor Ort zum Erliegen kommt.

Unter dem Viadukt der U-Bahn soll der acht Kilometer lange Radschnellweg entstehen.

Im Übrigen verlaufen am Halleschen (siehe Bild) und Tempelhofer Ufer der Europawanderweg Nr. 11 und der Grüne Hauptweg Nr. 19 – Elemente eines regionalen und überregionalen Netzwerks, das eben die bessere Seite der Stadt bedient, aber an dieser Stelle wegen des starken Kfz-Verkehrs total unattraktiv ist. Am Landwehrkanal begegnet der Berliner dem Wasser. Und die Wasser in Berlin fließen ruhig. Kommt also mal runter am Kanal! Runter von Euren Rossen mit Motor! Runter vom Gaspedal und runter mit der Geschwindigkeit. 1930 gab es an der Stelle sogar einen Unfall. Ein Automobil war mit Karacho gegen die Uferbegrenzung gekracht, im Inneren ein Toter. Allerdings hatte man Boris aus dem Leben gedrängt, bereits bevor sein Mörder den Zündschlüssel umdrehte und den Unfall umständlich vortäuschte. Nachzulesen in: „Der nasse Fisch“. Das ist bestimmt bloß ein komischer Zufall. Oder ist Volker Kutscher ein Fan autofreier Straßenräume? Allenfalls die Radbahn Berlin sollte hier aufdrehen können. Aber um die mache ich mir jetzt wirklich Sorgen. Sie gerät mehr und mehr zum Prestigeprojekt, wenn sie real keiner mehr braucht, um mit dem Fahrrad von Schöneberg bis zur Oberbaumbrücke zu rollen. Soll sich der ADAC freuen, dass die Radbahn vielleicht deshalb „auf der Strecke bleibt“ (im Sinne von: sich erübrigt). Dann bleiben vielleicht die Parkplätze unter dem U-Bahnviadukt. Gute Fahrt! – Ach nee, bleiben Sie besser zu Hause!

LINKS

Artikel in der Morgenpost v. 23. April 2020: „Pop-up-Radwege sollen dauerhaft bleiben“

Artikel im Tagesspiegel v. 24. April 2020: „Der Mann hinter den Pop-Up-Radwegen“

Mit dieser Überdosis landet die AGB auf der Intensivstation

Er ist machbar, aber schädlich und sinnlos. Die Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz in Kreuzberg bekommt einen schwergewichtigen, neuen Nachbarn. Das hat die Abschlussveranstaltung zum Beteiligungsprozess „Bibliothek findet Stadt“ letzten Freitag klargemacht. In drei Varianten wird die Baumasse des notwendigen Neubaus mit 38.000 Quadratmetern Nutzfläche auf verschiedene Teilflächen des Standorts, mal hinter, mal neben und mal seitlich vor der AGB verteilt, und in größerer oder geringerer Höhe. Gemeinsamer Nenner aller drei Varianten ist allerdings eine Maßstabslosigkeit, über die man sich nur wundern kann.

Das Bestandsgebäude der AGB, dieser leichte, fast fragile „Freiheitsbau“ im Grünen, geht in den Baumassen unter (Variante 1) oder wird von ihnen vom Platz gedrückt (Variante 2 und 3); nicht die Spur einer Balance ist zu erkennen. Schlimmer noch, dass auch ein zweites „identitätstiftendes“ Bauwerk dieselbe Wirkung erfährt, dass man auch ihm das sinnvolle Maß verwehrt, das ihm gebührt: die Heiligkreuz-Kirche jenseits der Zossener Straße. Das ist Städtebau mit dem Vorschlaghammer. Aus Berlins Historie kennt man das: Der Dom des Kaisers, der das Alte Museum erschlägt, die „Große Halle des Volkes“, die Reichstag und Brandenburger Törchen erschlägt.

Das nennt man wohl: „Klotzen“, Variante 1 der Machbarkeitsstudie (Modellfoto: André Franke)

Modelle zeigen uns die Fehldosierungen im Städtebau auf den ersten Blick. So war auch der Fehler im Bild am Freitag sofort zu finden. Die riesige Baumasse rund um den Blücherplatz abladen zu müssen, und zu kieken, ob ditt überhaupt machbar is, ist aber nur die Folge eines anderen Fehlers. Was die städtebauliche Machbarkeitsstudie zeigt, ist ja: der Standort verträgt das gewollte, politisch beschlossene Bauprogramm nicht. Also ist der Standort falsch, jedenfalls wenn man auf der Suche nach einem Städtebau ist, der Sinn macht. Und wahrscheinlich ist noch mehr falsch: Auch der Zentralisierungwahn der heute dezentralen Landesbibliothek riecht nach der falschen Antwort auf die Zukunftsfragen der polyzentralen Großstadt Berlin.

Hier berichtet die Morgenpost… mit Bildern von allen 3 Varianten

Der Retter der Bauakademie

Die merkwürdigste Figur in dem spärlich besetzten Gerichtssaal war die Richterin. Und damit meine ich, dass ich ihre Erscheinung, Ausdrucksweise, ihre Gesten und ihr Geschick, das Gespräch zu führen, als würdig erachte, in Erinnerung zu bleiben und nicht: dass sie „schräg“ war. Sie redete recht leise, für meinen Geschmack etwas zu leise, konnte aber auch (und das tat sie) laut werden, wenn sie Wert darauf legte, einen Gedanken, eine Ausführung, ein Argument zu Ende zu bringen. Sie redete streckenweise auch recht lange, als dachte sie für sich selbst laut nach, als säße sie zu Hause über den Akten und bereitete sich noch auf den Fall am kommenden Tage vor. Sehr sympathisch, wenn Juristen nicht immer sprechen wie gedruckt. Nahm sie die Brille ab und lehnte sich in den Stuhl zurück, so wusste man: Gleich kommt sie ans Ende und übergibt den Ball an die Gesprächspartner, an den „Verfügungskläger“ oder an den „Verfügungsbeklagten“.

Bauakademie im Januar 2020: Alle warten auf Form und Inhalt des proklamierten Architekturzentrums (Foto: André Franke)

Der Name des (gefühlt) Beklagten war im Vorfeld bekannt geworden: Florian Pronold, der ausgewählte Gründungsdirektor der Berliner Bauakademie. Er sollte von dem Posten wieder herunter geholt werden, war im Saal selber aber nicht anwesend, nur durch einen Anwalt vertreten. Wo er hätte sitzen sollen, da stellte der Anwalt bequem die Tasche ab. Da Gefühle im Gerichtssaal aber fehl am Platze sind, sei hier richtiggestellt: Beklagt wurde die Stiftung Bauakademie, nicht Pronold selbst, für den sie sich bei der Vergabe des Postens entschieden hatte. Der Morgenpost, die heute über den Prozess berichtet, sagte Pronold entsprechend, er sei „Gegenstand des Prozesses, nicht Teil des Prozesses“. Also, Platz frei für eine Tasche.

Auf der Klägerbank saß dagegen ein anderes Rätsel. Wer genau klagte hier eigentlich? Aus der Zeitung erfuhr man es im Vorfeld nicht. Von einem Architekten und einem Professor war nur die Rede. Nicht zuletzt diese Frage brachte mich am Dienstag dazu, mich zum Magdeburger Platz ins Landesarbeitsgericht zu bewegen. Es war doch eine öffentliche Verhandlung, bei der sich niemand verstecken konnte. Hier saß zunächst der Professor; der Architekt kommt morgen, am Donnnerstag um 12:30 Uhr mit demselben Anliegen ins Gericht. Der Professor war im Gegensatz zu Pronold präsent und erkennbar. Aha. – Aber als sich das eine Rätsel löste, kam bereits ein anderes in die Welt.

Was aussieht wie Kollegenschelte

Der Verfügungskläger (es ging um eine einstweilige Verfügung) war nicht in die Endrunde des Auswahlverfahrens gelangt, bekam nach einem ersten Vorstellungsgespräch eine Absage. Vor Gericht stellte sich jetzt heraus, dass der Professor mit der Klage nicht nur erreichen wollte, Pronold den Direktorposten an der Bauakademie abzusprechen. Der Professor klagte direkt darauf, selber die Stelle zu bekommen; diesen Sachverhalt hat die Richterin feinsäuberlich abgeklopft. Merkwürdig! Sie sollte den verhinderten Mitbewerber über den Rechtsweg des Konkurrentenschutzes und vorbei an allen ebenfalls gescheiterten (aber immerhin Endrundenkandidaten) in die Bauakademie bugsieren. Das ist mehr als merkwürdig. Das ist schräg.

Warum macht einer das? So einen vermessenen Anspruch eingelöst zu bekommen, ist doch aussichtslos. Deshalb muss man dem Professor unterstellen, es ginge ihm darum, seinen Namen ins Spiel zu bringen, ihm eine kleine, nette, unvergessliche Geschichte anzuhängen. Die Wiederaufbaugeschichte der Berliner Bauakademie würde nach dem Prozess – egal wie er ausginge – nicht mehr erzählt werden können, ohne den Schlenker über den Magdeburger Platz einzubauen. Wenn der Verfügungskläger aus solch egoistischen Gründen das Gericht bemüht haben sollte, will ich seinem Namen hier keine Bühne bereiten. Mein Verfügungskläger bleibt bis auf weiteres anonym.

Im Zentrum des Architekturzentrums ein Staatssekretär?

Das Motiv des Professors könnte aber auch ein anderes gewesen sein. Deshalb fällt sein Name im Folgenden schließlich doch. Er könnte, ganz uneigennützig, die Bauakademie retten wollen. So ein Gründungsdirektor ist ja keine Tresenkraft, sondern die Hauptfigur des Projekts. Man stelle sich das Humboldtforum ohne Neil MacGregor vor (auch wenn er längst wieder weg ist) oder das Berliner Ensemble ohne Bertolt Brecht (auch schon weg). Gründer sind Lokomotiven. Sie müssen sich mit Dampf auskennen. Florian Pronold, Politiker, kennt sich mit dem Dampf der Architektur wohl eher nicht so gut aus wie unser klagender Professor; das beweisen die Biografien. Darüber, wer dem Anforderungsprofil des Bauakademie-Direktors besser entspricht, wird bald in einem Hauptverfahren verhandelt, so entschied das Gericht am Dienstag. Es hat die Postenvergabe tatsächlich gestoppt. So hat Philipp Oswalt – Professor für Architekturtheorie an der Uni Kassel, Ex-Stiftungsleiter am Bauhaus Dessau, Kurator und Publizist – die Bauakademie womöglich vor einem größeren Fehlstart bewahrt (wenn man sich diese kleine Personaldebatte mal kurz aus dem Auge wischt).

Und vermutlich wird diese Weichenstellung auch einen Einfluss auf die Sterne haben. Denn dort, in den Sternen, steht ja der Architekturwettbewerb und die Frage, die alle beantwortet haben wollen: In welcher Architektur kommt die Bauakademie zurück?

Über das Wagnis, in Berlin einen Grundstein zu legen

Grundsteinlegungen in Berlin waren immer riskant. Als der König nach dem Sieg über die Dänen das Denkmal in Auftrag gab, das wir heute als Siegessäule kennen, wusste er noch nicht, dass er auch gegen die Österreicher gewinnen würde und gegen die Franzosen. So buddelten die Berliner den Grundstein der Siegessäule gleich zweimal wieder aus, ehe das Denkmal 1873 endlich eingeweiht werden konnte: dann von einem König, der auch Kaiser war. Springen wir ins Jahr 2012, zum 12. Juni an den Schlossplatz: Damals wurde dort der Grundstein fürs Humboldtforum gelegt, und Hermann Parzinger wagte einen Kommentar auf das sonnige Berliner Wetter, als er seine Rede unter freiem Himmel begann. Er könne von „Kaiserwetter“ sprechen (und er tat es eben auch), scherzte er spontan. Später, als er sich an die Schlosskritiker richtete („Betrachtet uns nicht nur durch die Brille des Kolonialismus!“), fiel ein Lächeln leicht und das Ernstnehmen schwer. Und heutzutage? Hat auch Jochen Sandig neulich auf der Tacheles-Baustelle etwas Riskantes getan?

Der Pirat stürmt die Prominentenbühne und ist selber einer

Nach dem Bericht der Berliner Zeitung vom 19. Oktober („Akt der Piraterie“) sprang Sandig, ein Tacheles-Gründer, auf die Bühne und befüllte die Kartusche, die in den Grundstein kommt, mit Papier, das für den Tacheles-Untergrund so nicht vorgesehen war: Karten, die mit den 17 Zielen der nachhaltigen Entwicklung beschriftet waren; die UN hatte sie 2015 in ihrer Agenda 2030 beschlossen. Sandigs Botschaft: Die Tacheles-Ruine soll nicht vermarktet, sondern einer Stiftung übergeben werden, und die Generation Greta soll in das Haus einziehen; „Fridays for Future“ soll ein Zuhause kriegen. Fridays for Future an der Friedrichstraße (naja, fast an der Friedrichstraße), das ist schon ein reißerisches Setting. Für alle, die die Nachhaltigkeitsziele konkret nicht kennen (z.B. ich selbst), liste ich sie einmal auf:

  1. keine Armut
  2. kein Hunger
  3. Gesundheit und Wohlergehen
  4. hochwertige Bildung
  5. Geschlechtergleichheit
  6. sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
  7. bezahlbare und saubere Energie
  8. menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum
  9. Industrie, Innovation und Infrastruktur
  10. weniger Ungleichheiten
  11. nachhaltige Städte und Gemeinden
  12. nachhaltige/r Konsum und Produktion
  13. Maßnahmen zum Klimaschutz
  14. Leben unter Wasser
  15. Leben an Land
  16. Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen
  17. Partnerschaften zur Erreichung der Ziele

Mag die Mission Jochen Sandigs auf höherer, symbolischer Ebene liegen, so lassen sich doch ein paar Reizpunkte auch auf den neuen Tacheles-Bau direkt beziehen. Taz-LeserInnen entdecken sofort eine Missachtung von Punkt 5. Das Publikum, vor dessen Augen die Grundsteinlegung am 19. September 2019 stattfand, bestand einem Bericht zufolge nicht zu gleichen Teilen aus Damen und Herren. Nein, die taz sah eine „Männerriege“ aus „rund 300 Männern in blauen Anzügen (…) Die wenigen anwesenden Damen waren entweder fürs Büffet oder die Berichterstattung zuständig“. Dagegen verwirklicht das Tacheles Punkt 17 phänomenal: Ex-Stadtentwicklungssenator Peter Strieder macht den Bebauungsplan (im Jahre 2003), seine Gattin lädt zur Grundstein-Party (2019); auch hier hilft uns die taz (zitiert den Tagesspiegel), aber auch die Morgenpost erklärt ein paar Hintergründe (siehe unten). Der Pirat könnte also durchaus „im Klartext“ gehandelt haben. Aber was hat denn Sandig nun eigentlich riskiert?

Tacheles-Baustelle mit Kranhaken, ca. 2 Jahre vor der Grundsteinlegung

Wäre ich am 12. Juni 2012 zur Schlosskartusche marschiert und hätte ihr rebellisch eine taz reingedrückt (damals schrieb sie über den „großen Fassadenschwindel“), man hätte mich wohl in die Spree geworfen. Und am Tacheles schreiten „dutzende Sicherheitsmänner mit ´Mann im Ohr“ (wieder taz) nicht ein, wenn jemand auf die Festbühne springt, der auf der Festbühne gar nicht erwartet wurde? Ich glaube, dass der Festspielintendant und Berliner Kulturunternehmer von vornherein zum Programm gehörte. Man war ja unter sich. Und wenn das stimmt, hat Sandig nur eine Sache riskiert: mit seiner Stiftungsidee nicht gehört zu werden. Insofern hat er ja noch mal Glück gehabt, dass wenigstens die Berliner Zeitung darüber schrieb. Vielleicht war das aber nur eine Gefälligkeit im Gegenzug dafür, dass der Berliner Zeitung die Ehre zuteil wurde, mit dem Tacheles-Grundstein versenkt zu werden – vom Ex-Regierenden Klaus Wowereit. Auch das erfährt man von der taz.


LINKS

Berliner Zeitung v. 19. September 2019

Berliner Zeitung v. 19. Oktober 2019

Baugeschichte Siegessäule auf bundestag.de

Eventreport Grundsteinlegung Schloss auf Futurberlin.de v. 13. Juni 2012

Morgenpost v. 8. September 2016

Nachhaltigkeitsziele auf bundesregierung.de

Tagesspiegel v. 19. September 2019

taz v. 19. September 2019

taz v. 20. September 2019

Der Mann und der Turm

Hinter der Kapelle gehen wir rechts, dann links. Fast am Ende des Weges, wo der Friedhof auf die Mietshäuser der Pflugstraße trifft, liegt rechts eine Reihe von Urnengräbern. Auf einem davon sitzt ein runder Findling, der Grabstein von Jürgen Litfin. Zwei Fußsohlen sind auf der grauen Oberfläche in Violett gemalt. Zwei Jahreszahlen grenzen sein Leben ein: 1940, 2018. Wann genau war er eigentlich gestorben? Eine Meldung der Berliner Woche verrät, dass es der 19. Oktober war. Ich wechsle die Blumen, bringe frisches Wasser. Auf der Bank sitzen die Gäste und reichen sich Jürgens Buch durch die Hände „Tod durch fremde Hand“. Ich hatte es für sie aus dem Rucksack geholt. Jürgen Litfin beschreibt darin, wie er aus dem Grenzturm am Spandauer Schifffahrtskanal eine Gedenkstätte machte. Ein Gast, der Jürgen kannte, weil er oft zum Bundeswehrkrankenhaus in die Scharnhorststraße ging, ist überrascht, dass der Mann vom Turm jetzt tot ist. Er hat es nicht erfahren. Dabei ist fast ein Jahr vergangen.

Der Besuch des Friedhofs war eine Station auf einem Spaziergang, den ich am Sonnabend für die Stadtteilkoordination Brunnenstraße Süd führte. Die Tour musste ohne den Turm auskommen, denn er lag zu weit von der Strecke entfernt, Jürgens Grab dagegen nicht.

Der Grabstein Jürgen Litfins auf dem Domfriedhof an der Liesenstraße am 10. August 2019 (Foto: André Franke)

Und das war unser Weg: Durch den (1) Park am Nordbahnhof, zu den (2) Liesenbrücken, über die (3) Dom-Friedhöfe, von hinten an (4) „The Garden Living“ vorbei (hier hatte mich vor Jahren beinahe ein Hund ins Bein gebissen: lies hier), durch das (5) „Kaninchenfeld“ an der Chausseestraße, über die Wöhlert- und Pflugstraße in die (6) „Feuerlandhöfe“, auf die Chausseestraße raus zum (7) BND, (8) Libeskinds „Sapphire“ im Rücken, vorbei am (9) besetzten Haus in der Habersaathstraße, vorbei am (10) Ballhaus mit dem „Alt-Berlin“, rein in die Zinnowitzer Straße, vorbei am Holzhaus der neuen (11) Schauspielschule „Ernst Busch“, vorbei am (12) „Kleinen Stettiner“, dem backsteinernen Vorortbahnhof und rüber auf den Platz am alten (13) Stettiner Bahnhof an der Invalidenstraße.

Das Kuppelkreuz des Berliner Doms steht hier. Rechts: The Garden Living (Foto: André Franke)

Action im Tunnel

Als wir an die schrottreifen Liesenbrücken kamen, war die Treppe runter zur Gartenstraße gesperrt. Ein laminiertes A4-Blatt ohne irgendwelche Zeichen von Behördenautorität hing schief an einem hüfthohen, festgeketteten Gitter. Aber einen Schreibfehler wies das Schild auf: „Dieser Eingang ist wegen einer Unfallgefahr vorübergehend gesperrt!“ Wer hat sich den Scherz erlaubt? Wir waren nicht die einzigen, die den Weg zurück bis zur Rampe gehen mussten. Wie oft im Leben, entpuppte sich das Ärgernis aber als Bereicherung: Am Ausgang des Parks befindet sich der Eingang zum Fußgängertunnel, der früher unter dem Bahnhofsgelände hindurchführte. Ein Metalltor versperrte den Leuten den Weg hinein. Hier tummelten sich ein paar Jugendliche. „Wir waren drin“, sagten sie. Glaubten wir nicht. Da zeigten sie uns, wie sie sich zwischen Tor und Backsteinportal durchzwängten. Und auf einmal war am Tunnel richtig viel los. Mal sehen wielange das Bezirksamt braucht, um „eine“ Unfallgefahr auch hier erfolgreich zu unterbinden. Eine schöne Überraschung war das jedenfalls! Ohne die gesperrte Treppe hätten wir den Tunnel nicht gesehen, und die Tunnelgeschichten der Kids nicht gehört.

Die Ganzschlauen von der Torstraße – Eine Spezie zerfleischt sich selbst

Es fuhren einmal Blinde auf Rädern vom Prenzlauer Berg herab. Man wollte meinen, sie wollten ins Blindenrestaurant in der Gormannstraße. Ja, in die Gormannstraße wollten sie schon. Aber war ihnen nicht hungrig zu Mute. Eilig hatten sie´s, wohin zu kommen. Wohin auch immer. Da nahm ein jeder die falsche Radspur. Quer schossen die Blinden über die Torstraße. Geradeaus hätten sie fahren können. Geradeaus hätten sie fahren müssen! Doch sahen sie nicht den Überweg, den schnellsten über die Gleise. Nein, sie preschten durch das Nadelöhr, die Narren aus dem Norden. So rammten die blinden Nordradler gegen die sehenden Südradler. Und einem Südradler, dem Armen, fiel nach dem Zusammenstoß das Auge heraus… Bis der Blinden immer mehr wurden.

Die Mär vom Radeln mit Köpfchen

Ich hoffe, in 200 Jahren schreibt keiner so ein Märchen. Warum benutzen die Leute, die aus der Choriner Straße kommen, die Fahrradschleuse auf der Torstraße nicht? Sehen sie die Anlage nicht? Oder ignorieren sie sie? Jemand müsste sie mal fragen. Vielleicht mache ich das.

Ich meine, die Torstraße braucht einen Fahrradschleuser: Eine offizielle Figur, warum nicht einen Mitarbeiter aus dem Ordnungsamt, der die Nordradler (aus dem Norden kommend) daraufhinweist, dass sie den falschen Weg nehmen. Das Ordnungsamt, das nur den ruhenden Verkehr beaufsichtigt, könnte das machen, weil die Radfahrer, wenn die (Fußgänger-)Ampel auf rot steht, sich mit den wartenden Fußgängern auf den Gehweg stellen (nördliche Seite der Torstraße).

Ich kenne keine vergleichbare Straßensituation in Berlin. Das Schlimmste an der Torstraße ist: Radfahrer behindern Radfahrer. Das hat etwas Kanibalistisches, eine Spezie zerfleischt sich selbst.

Und dann Prenzlauer Berg! Wohnen dort nicht schlaue Menschen? Bestimmt. Rasen sie runter an die Torstraße, halten sie es für das Schlaueste, die schlaue Wegeführung auszutricksen. Das sind die Ganzschlauen.

Torstraße „at its best“: Ein „Ganzschlauer“ aus dem Norden (im Bild jenseits der Gleise) will an 4 Radlern und 5 Fußgängern vorbei (Foto: André Franke)

Nordradler! Das gewinnst du, wenn du es richtig machst:

  1. Du überquerst die Torstraße (zunächst) ohne Ampel sowie keine Autos kommen, während die Fußgänger (Nord- und Südseite) und die Radfahrer (Südseite) noch bei rot warten.
  2. Fährst du gemeinsam mit Partnern bietet die langgezogene Fahrradschleuse genug Platz für alle.
  3. Du brauchst in der Fahrradschleuse nicht von deinem Rad abzusteigen, wenn die Fahrradampel auf rot steht; bleib auf dem Sattel und stütze dich mit den Füßen am Tramgeländer ab.
  4. Auf der anderen Seite der Tramgleise entlässt dich eine gelb-blinkende Ampel auf die Südseite der Torstraße. Auch hier sind die Fußgängerampeln irrelevant für dein Weiterkommen in die Gormannstraße. Du fährst, wenn kein Auto kommt. Und du fährst, wenn kein Auto dir den Weg versperrt. Das kommt manchmal vor. Aber selbst wenn, hätte die Selbstzerfleischung der Radfahrer auf der Torstraße ihr Ende gefunden.

Falschparker fürchtet die Findlinge nicht: „Ich bin dann mal weg…“

Das war der News Ride #27/19 am Sonnabend, den 6. Juli 2019, mit dem Dragoner-Areal, der Begegnungszone Bergmannstraße, dem Karstadt am Hermannplatz und den Hausbooten auf dem Rummelsburger See (Strecke: 9 Kilometer)

Götterbäume bei den Dragonern

Wir starteten am Willy-Brandt-Haus um 12 Uhr. Den ersten Stopp machten wir im nur fünf Minuten entfernt liegenden Dragoner-Areal. Das knapp fünf Hektar große, gewerblich geprägte Gelände (mit Autowerkstätten u.a.) gehört jetzt dem Land Berlin. Das hatte der Bundesrat im Juni endgültig bestätigt. Der seit 2015 währende Grundstücksstreit ist damit beendet. Auch wurde gerade die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet, die u.a. das Bezirksamt Kreuzberg und die Vor-Ort-Initiativen getroffen haben, um das Sanierungsgebiet zu bebauen und weiterzuentwickeln. Schautafeln mit Infos zu den Bürgerwerkstätten, die im April und Mai stattgefunden haben, hängen an zwei Stellen aus: so z.B. am Haupteingang in der Obentrautstraße, in einem Gebäudeteil des LPG-Biomarktes. Wir sind alle Wege, die es zwischen den Baracken gibt, abgefahren, was man ja selten macht, und was auch ein bisschen tricky ist, angesichts der chaotischen Erschließung. Die schöne Gasse am Mamorwerk mit den spontan gewachsenen Götterbäumen hat mich am meisten beeindruckt.

Über den Mehringdamm ging es weiter zur Bergmannstraße. Hier war die Begegnungszone Thema, und wir radelten die von den orange-gelben Parkletts gesäumte Straße komplett bis zur Marheineke-Markthalle ab. Neben den grün-gepunkteten Kreuzungsflächen sind das Neueste in der Zone die fetten Findlinge, die der ehemalige Förster und Leiter des Kreuzberger Straßenbauamts Felix Weisbrich auf die Kreuzung zur Zossener Straße legen ließ, um Falschparker daran zu hindern, die Baustelle zu blockieren. Was für eine Schnaps-Idee! Ich finde sie genial. Selbst die Kreuzberger reagieren mit Goethe: Auch aus den Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen“, schreiben sie mit Kreide auf die Fahrbahn. Auf diesem „Begegnungsplatz“ (das soll er laut Bezirksamt wohl mal werden) standen wir eine ganze Weile, bestimmt zwanzig Minuten. Und es wurde umso gemütlicher, je mehr Zeit verging. Wir beobachteten auch live einen Falschparker, der sein Auto, quer geparkt, einfach stehen ließ. Allerdings kam er nach zehn Minuten wieder und entpuppte sich als Musiker, trug zwei Gitarrenkoffer unterm Arm. Auch Falschparker können also gute Menschen sein. Findlinge am Fuße des Teltow… Ich hätte schon eine Idee für einen Findlingsstandort am Fuße des Barnim, aber das steht auf einem anderen Blatt.

Falschparker in der Bergmannstraße: „Ich bin dann mal weg…“

„Nasser Fisch“ grüßt Chipperfield

Zum nächsten Halt am Hermannplatz radelten wir über den neuen geschützten Radweg in der Hasenheide (ein spannender Nebeneffekt, denn die rot-weißen Poller sind mehr als gewöhnungsbedürftig, sie reizen zum Schreien). Aus der Karl-Marx-Allee Karl-Marx-Straße (dass mir dieser Fehler mal passiert, hätte ich nicht gedacht) blickten wir später auf das Karstadtgebäude, das ja abgerissen und durch die originale Kaufhausfassade der 20er Jahre ersetzt werden soll. Chipperfield will neue Leuchttürme bauen. Diese Nachricht hatte mich vor ein paar Wochen aus den Socken gehauen, da ich grade „Nasser Fisch“ von Volker Kutscher gelesen hatte. In der ersten Szene des Romans jagen die Kommissare den „Pornokaiser“ die Hermannstraße runter. Er flüchtet über den Bauzaun in die Baustelle am Hermannplatz, wo gerade der alte, originale Karstadt-Bau hochgezogen wurde, 1929, mit den legendären, 55 Meter hohen Leuchttürmen. Ob ein Abriss nötig ist, fragten wir uns, als wir länger auf das Gebäude sahen. Es gibt ja schon zwei Türme über dem Dach! Und es gibt auch schon eine Dachterrasse, auch wenn sie im Moment nur unter „Konsumzwang“ begehbar ist. Ein Umbau tut´s vielleicht auch.

Die letzte Etappe führte uns durch Neuköllns neue Fahrradstraße, die Weserstraße. Über die Wildenbruchstraße und die Elsenbrücke erreichten wir die Stralauer Halbinsel und schließlich den Rummelsburger See. Erste Bemerkung eines Gastes: „Das werden ja immer mehr Boote hier.“ Und genau darum ging es. Waren 2016 noch 24 ankernde Boote auf dem See zu zählen, stieg die Zahl 2018 auf 101, berichtete der Tagesspiegel in einem lesenwerten, 19 Absätze umfassenden Artikel. Die Autorin beschreibt darin einen Fotografen, der von seiner Friedrichshainer Wohnung vom Ufer „der“ Rummelsburger See zu seinem Atelierboot pendelt. Wie geil, Berlin liegt jetzt am Meer! Sein Boot, dessen Bau vom Auswärtigen Amt und von visit-Berlin gefördert wurde, konnten wir nicht zweifelsfrei ausfindig machen, aber das „Lummerland“ mit der Sauna haben wir vom Ufer aus erkannt. Die Senatsverwaltung für Umwelt will beim Bund ein Ankerverbot für die Boote herbeiführen, bisher hat sie damit keinen Erfolg gehabt. Bewohner der „Wasserstadt“ in Stralau und Rummelsburg hatten wegen Lärm geklagt, und der schadstoffbelastete Seegrund soll bald saniert werden. Deshalb sollen die Boote weg. Krass überrascht hat uns der lange Bürobau, der gerade an der Ringbahn gebaut wird, das B:HUB (das Abendblatt berichtete im März 2018).

Route des News Ride vom 6. Juli 2019: Vom Will-Brandt-Haus zum Rummelsburger See (9 km)

Nächster News Ride folgt…

Der Allesandersplatz am Alexanderplatz als Arbeitsplatz von Futurberlin?

In meinem mittlerweile zehnjährigen Dasein als Futurberliner hat es bisher kein Projekt gegeben, das mich zu einem Akteur werden ließ. Beobachten und das große Berlin-Puzzle zusammenbauen, fand ich reizvoller als eines der Teile selbst mitzugestalten. Nachdem ich heute im Haus der Statistik gewesen bin, sehe ich meine Sternstunde gekommen und kann mir vorstellen, als Pioniernutzer einzuziehen. Warum?

Gleiche Devise, anderer Zoom

Da wird nicht einfach etwas gebaut. Da wird ein Quartier entwickelt, dem das Unfertige, Improvisierte, das Einsetzbare, Ansetzbare, Austauschbare in die Agenda geschrieben ist. Das heißt, am und im Haus der Statistik wird sich immer irgendwas verändern. Vielleicht schneller und verrückter als anderswo in Berlin. Es wäre eine schlüssige Fokussierung meines selbstgestellten Arbeitsauftrags, das Werden Berlins zu begleiten: eine zweite Brennweite, eingestellt auf den Block zwischen Karl-Marx-Allee und Otto-Braun-Straße.

Showroom für Berliner Stadtentwicklung

Ich würde einen Raum einrichten, ein paar Quadratmeter, vier mal Wand. Da bringe ich das Digitale ins Analoge zurück: An der ersten Wand das Newsboard, ein echtes (!) Newsboard, das Monat für Monat als thematischer Pressespiegel neu anwächst mit Nachrichten aus der Stadtentwicklung Berlins. An der zweiten Wand ein unbegrenzter Eventkalender. An der dritten: Akteurslisten. An der vierten: die Stadtbilder. An der fünften… Oh, ich sehe, das Büro des Futurberliners braucht verspielte Grundrisse. „Büro“ wäre aber der falsche Begriff. Mir schwebt ein offener Newsroom, Showroom für Stadtentwicklung vor, wo Berliner und Berlinbesucher sich einen Überblick verschaffen können, mit mir, dem Futurberliner, Sprechstunden abhalten können, Sprechstunden zur Stadtentwicklung. Das heißt, ich importiere Berlin ins Haus der Statistik.

Tourenbasis von Futurberlin

Umgekehrt exportiere ich das Haus der Statistik als Projekt auf die Straßen Berlins. Ich würde regelmäßige Blockwalks anbieten und die fortlaufenden Veränderungen auf dem Gelände (das ja riesig ist und rückwärtig für die meisten Leute unbekannt), präsentieren. Meine Touren würden standardmäßig am Haus der Statistik starten. Die Lage am Alex, in der östlichen Mitte, ist optimal. Ganz naheliegend dann, bei Tourstart (egal welcher Art) das Projekt kurz vorzustellen und bekannter zu machen.

Mr. Skyscraper findet den Arbeitsplatz

Was mich persönlich packt, das sind die symbolischen Klammern, die das Haus der Statistik mit meinem freien Schaffen verbindet. Vor knapp zehn Jahren schrieb ich einen meiner ersten Artikel über die damaligen Pläne für den Ort. Das Haus sollte abgerissen werden und mit Blöcken neubebaut. Neue Straßen führten im Siegerentwurf des Wettbewerbs von der Otto-Braun-Straße ins Wohngebiet Karl-Marx-Allee Nord. Alles Schnee von gestern! Alles vergessen am jetzigen „Alles-Anders-Platz“ (das ist der aktuelle Schriftzug auf dem Gebäudedach). Der Komplex bleibt so stehen, wie er ist. Diese Kehrtwende an diesem prominenten Ort, fasziniert mich. Oder vielmehr, dass sie möglich wurde. Stadtplanung ist eben oft für die Katz.

„Allesandersplatz“ ist der neue Schriftzug auf dem Dach des Haus der Statistik

Wenn der Futurberliner, eine Topfpflanze, die noch den Garten sucht, wirklich im Haus der Statistik sein Biotop finden sollte, wäre noch eine weitere Klammer fix. Eine Kollegin, die ich angesichts ihres ausgelebten Chronisten-Gens sehr schätze, hat mich mal wegen meines Newsletters „Mr. Skyscraper“ genannt. Von wo aus könnte Mr. Skyscraper das Hochhausbeben, das die City Ost aus den Angeln wirft, besser beobachten als von einem Standort am Rande des geplanten Tower-Clusters? Hier, im Haus der Statistik, im Schatten des Alexanderplatzes, könnte das Auge des Futurberliners den wohl unappetitlichsten Akt im Theater um Berlins vermessener Aufholjagd zum Architekturhimmel europäischer Metropolen mitverfolgen. Hier werden Betonbomben fallen und sie werden ihre Druckwellen auch auf das Haus der Statistik abgeben. (Besser man baut im Haus der Statistik also nicht zu früh die Fenster ein.)

Ach so, es gibt für die Pioniere im Gebäude übrigens keine Heizung, wie man mir heute sagte. Im Moment mag das ja gehen. Aber im Winter? Egal. Im Haus der Statistik ist eben alles anders.

 

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