Eine Mitte der Bürgerschaft (2/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Schöne Aussicht?

Welchen Blick aber, welche „schöne Aussicht“ wird Franco Stellas „Bellevue“ eröffnen, der neue Ostflügel von Schloss und Humboldtforum, auf das historische Berlin östlich der Spree, dort wo einst die Bürgerstadt Berlin entstand? Dazu ein Zitat Günter de Bruyns aus „Unter den Linden“:

 „Was die Kaiserzeit von dem rechts der Spree gelegenen alten Berlin übriggelassen hatte, wurde im Zweiten Weltkrieg zertrümmert und in den Nachkriegsjahrzehnten in eine vom Fernsehturm überragte innerstädtische Leere verwandelt, in der die Betonatrappe des Nikolaiviertels nur schlecht ans Verlorene erinnert und die erhaltene Marienkirche wie ein Fremdkörper wirkt.“

Es ist ein unwirkliches Bild, das sich da bietet, ein sonderbarer Raum. Im Vordergrund eine Kultstätte: ein großes grünes Quadrat um einen steinernen Kreis, in der Mitte ein Standbild umgeben von Stelen und Bildwerken. Im Hintergrund ein futuristisch-außerirdisch anmutendes Panorama: eine sich in Dreiecksmustern und Wasserkaskaden steigernde Achse, hinauf zu einem mit  spitzen Stacheln weit ausgreifenden Sockel, darauf, gekrönt von einer drehenden Kugel, ein hoch in den Himmel ragender Betonturm.

Zwei große Backsteinbauten – Marienkirche und Rotes Rathaus – wollen nicht in dieses Bild passen. In schräger Randlage, ihrer historischen Umgebung entkleidet und bedroht von den Stacheln des Turmsockels,  reckt  St. Marien tapfer ihren kupfernen Turmhelm. Gegenüber, brandenburgisch rot der Backstein und aufrecht der Turm, behauptet sich, ohne Rathausplatz, in die Flucht hoher Plattenbauten gedrängt, das Berliner Rathaus.

Beide Bauten, Kirche und Rathaus, erinnern an die bürgerliche Geschichte Berlins, an die kleinstädtische des Mittelalters, an die großstädtische der Neuzeit.  Die Marienkirche, einst am „Neuen Markt“ gelegen, und die wenig frühere Nikolaikirche, einst am älteren Molkenmarkt, zeugen von der aufstrebenden Kaufmanns- und Handwerkerstadt des Mittelalters. Die Marienverehrung in einer damals neuzeitlichen Hallenkirche, einer bürgerlichen Sammlungs- und Versammlungsstätte, zeugt vom Wandel des Frauen-, Menschen- und Gottesbildes. Berlin schloss sich mit seiner Zwillingsstadt Cölln der norddeutschen Hanse an, dem Schutzbündnis freier gleichberechtigter Handelsstädte. Überall in den Hansestädten werden St. Nikolaus, dem Schutzpatron der Kaufleute und Seefahrer, und der Gottesmutter Maria als „Stella Maris“, rettender Stern auf hoher See, Stadtkirchen errichtet – in Backsteingotik, dem Kleid der Hanse. Berlin ist noch eine kleine Stadt in damaliger Zeit und St. Marien eine kleine Kirche verglichen mit der Mutterkirche der Backsteingotik, der gewaltigen Bürger- und Marktkirche St. Marien in Lübeck, dem Zentrum der Hanse, kleiner auch als der Backstein-Dom der Hansestadt Brandenburg an der Havel, der Ursprungskirche märkischer Gotteshäuser.

Morgen: Teil 3 „Altstadt im Schattendasein“

 

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