Stimmanns Straße
Natürlich ist es seine Straße. Natürlich ist die Friedrichstraße ein Werk Hans Stimmanns. Denn er hat den Weiterbau, Wiederaufbau, Umbau der Straße als Senatsbaudirektor ja selbst mitgestaltet. Insofern muss seinem Artikel, der am Montag im Feuilleton der F.A.Z. zu lesen war (und für den ich die drei Euro Printpreis ausgesprochen gerne bezahlt habe, denn ich ahnte, was mich erwartete), eine Reizung vorausgegangen sein: Und wen reizt sie nicht, die neue „Flaniermeile“, von der niemand mit Gewissheit sagen kann, ob die Friedrichstraße nördlich der Leipziger nun eine Begegnungszone, Fußgängerzone, Radbahn, einen Shared Space, verkehrsberuhigten Bereich, eine temporäre Spielstraße, einen Kunstmarkt, Streetfoodmarkt oder das Choriner Straßenfest aus Prenzlauer Berg darstellt.
Es findet sich eben von allen Berliner Straßenexperimenten etwas im Supergau der Friedrichstraße wieder: die gescheiterten Parklets aus der Bergmannstraße, die überalterten Schaukästen vom Ku´damm, die visionäre Radbahn aus Kreuzberg (die noch gar nicht gebaut ist). Das reizt nicht nur, sondern das nervt schon (die Parklets stehen ja auch in der Schönhauser Allee rum). Das nervt selbst mich, also einen, der die Verkehrswende gut findet.
Anfangs bog ich mit einem Lächeln in die umgekrempelte (so muss man es nennen) Friedrichstraße ein und genoss den Tapetenwechsel. Ich lachte, weil es so mutig war! Hier hatte sich Changing Cities an einer Legende vergriffen. Doch die Friedrichstraße lädt dazu ein: schnurgerade, menschliches F0rmat, markante Schnittpunkte mit Mauer, Linden, Spree. Wo wenn nicht in der Friedrichstraße musste das Berliner Experiment der Umgestaltung des bewegten Raumes erfolgreich sein?
Die amputierte Stadt
Aber mit Hans Stimmann wird die Legende wieder stark. Und Legenden herauszufordern, ist meistens ein Holzweg. Eine Sehnsucht packte mich oft, als ich mit Touristen am südlichen Ende der Friedrichstraße stand, ihnen die Vorstellung versuchte klarzumachen, dass mehr als eine, mehr als die Friedrichstraße früher in den Mehringplatz mündeten. Es war die Sehnsucht danach, die drei Kilometer lange Friedrichstraße mit einem Delorean (mit Flux-Kompensator) hinunter zu rasen und in der Zeit des Soldatenkönigs zu landen. Warum wagte Berlin, sein einzigartiges „Rondell“ zu zerstören? Während ich vor meinen Touristen immer davon redete, wie die Stadtplaner der Nachkriegszeit die Linden- und die Wilhelmstraße vom Platz „abschwenkten“ (wie mild!) und somit dem Doppelplatz Mehringplatz/Blücherplatz seiner Verkehrsfunktion beraubten, lese ich bei Stimmann in seinem historischen Abriss über die Geschichte der Friedrichstraße (der Dreiviertel des Artikels ausmachte), dass die beiden Nachbarstraßen geradezu „amputiert“ wurden. Das wird nicht ganz schmerzfrei für die Stadt abgelaufen sein. Wer aber der Stadt Schmerzfähigkeit zugesteht, muss es gut mit ihr meinen.
Er schreibt über das Wesen der Friedrichstraße vor der Amputation ihrer Nachbarstraßen:
Nicht die funktionelle Trennung, sondern das Aufeinandertreffen der Verkehrsteilnehmer auf den vergleichsweise engen Straßen des vormodernen Berlin wurde zum Kennzeichen großstädtischen Lebens.
Das ist im Grunde der Ruf nach einem echten Shared Space! Keinen roten Teppich für Radfahrer auslegen… Aber auch den Autos nicht das Durchfahren verbieten. Die Friedrichstraße darf niemandem gehören. Urbane Räume sind freie Räume, aber nicht zwangsläufig „autofreie“ Räume. – Ist es diese Einsicht, die Hans Stimmann uns abverlangt, wenn er klagt, das „keiner begreift, was urbane Räume wirklich ausmacht“?
Keine Autos, aber fast wieder Panzer
Der Artikel steht unter einem Paar Fotos. Das linke zeigt eine turbulente Straßenszene von früher. Das rechte zeigt die Radmeile mit den Parklets und den gelben Fahrbahnmarkierungen von heute. Früher war die Straße tatsächlich frei von Definition, überall gleich grau für jeden, der sie betrat oder befuhr. Beiden gemeinsam ist allerdings, dass kein einziges Auto zu sehen ist. Auch nicht im alten Bild. Insofern schwelt hier auch ein nicht gelöschtes Feuer unter dem Asphalt des Artikels. Das Feuer der Verbrennungsmotoren.
Die Friedrichstraße, schreibt Stimmann, habe wie Unter den Linden nur bescheidene Autoverkehrsmengen zu bewältigen, da sie beide verkehrsfunktionale Sackgassen sind. Die Realität des Verkehrsalltags sah (vor Corona) anders aus. Drei Beispiele:
- Täglich stauten sich die Karossen auf der einspurigen östlichen Fahrbahn zwischen Friedrichstadtpalast und Oranienburger Straße, sodass Radfahrer ab Höhe Tacheles auf den (ebenfalls schmalen) Gehweg ausweichen mussten. Hier dient der Nordstumpf Friedrichstraße als Abschnitt auf der Umfahrungsroute Prenzlauer Berg-Mitte-Regierungsviertel.
- Täglich wälzten sich die Reisebus-Kolonnen, linksabbiegend aus der Zimmerstraße vom Potsdamer Platz kommend über den belebten Kreuzungsbereich am Checkpoint Charlie. Eine beklopptere Sightseeingroute kann es gar nicht geben, da die Busse als Linksabbieger immer zuletzt fahren und daher lange warten, sich stauen und dabei die Luft verschmutzen. Die vormoderne, enge Breite der Friedrichstraße macht das Manöver leider nur gefährlicher.
- Und dann gab es das: Ein Vierzigtonner überrollte Ende März 2015 eine Radfahrerin, als das Lastfahrzeug von der Friedrichstraße nach rechts abbog.
Mag die Verkehrsmenge geringer sein als in andern Straßen, geringer als in der Leipziger, klar. Die Verkehrsqualität lässt jedenfalls zu große Kaliber zu, als dass ich in der Art Aufeinandertreffen einen erlebenswerten großstädtischen Reiz erblicken könnte.
Vom Kulturkaufhaus zum Bildungsquartier
Der Reiz der „Flaniermeile“ liegt doch darin, den Moment der Ruhe auszukosten, die Meile auszudehnen und auf ihr mit zeitgemäßen Verkehrsmitteln von Mitte nach Kreuzberg zu gelangen, ohne abzubiegen. Wenn man bei Dussmann schon an die Amerika-Gedenkbibliothek denkt, sie vielleicht sogar sieht (es ist fast möglich), dann erfüllt die Friedrichstraße ihre städtebauliche Funktion. Am Blücherplatz entsteht doch ein Bildungsquartier! Die ganze südliche Friedrichstadt wird davon profitieren.
Aber ich fürchte, sie braucht dafür ihre Gliedmaßen zurück. Mit der Sackgasse da unten wird das nichts. Im Interesse des ZLB-Projekts sollte man den Mehringplatz noch einmal auf den Operationstisch legen und die „amputierten“ Straßen wieder einrenken. Dann wäre die Friedrichstraße auch in Kreuzberg Stimmanns Straße.
Das Rad reaktivert die alte Stadt
Was könnte so ein Mehringplatz für ein öffentlicher, anregender Raum werden! Ein Satellitenplatz der Bibliothek. Und was aufeinanderträfe: Die Bücher, das Wasser, die Hochbahn, die Radbahn! Da haben wir sie wieder: die Radbahn. Die Friedrichstraße, ob selbst Radstraße oder nicht, trifft hinterm Mehringsplatz bald auf die Radbahn Berlin, den acht Kilometer langen Radschnellweg, der die Oberbaumbrücke im Osten mit dem Tauentzien im Westen verbinden wird. Paradoxerweise könnte es gerade der neue Radverkehr sein, der die alten Stadtstrukturen einfordert.
(Danke an Annette Ahme für ihren KIOSK-Tip vom 14. Dezember!)
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