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Im Bauche des Kahns – Diashow zur Stadtgeschichte findet am Mittwoch wieder auf dem Wasser statt

Dieter Janik ist wieder sicher im Hafen. Der Pianist hat in seinem Leben schon einige rollende Wellen erlebt. Überlebt. Am 2. Januar 1986 hatte er das Glück, nicht zu kentern. Die „Arkona“ war im Golf von Biskaya in einen Sturm geraten. Mit ihm, seiner Band und vielen anderen Seelen. Die Stabilisatoren des Schiffs waren ausgefallen. Die „Arkona“ legte sich zu 37 Grad zur Seite, sagt Janik. Sein Klavier lag kopfüber. Doch es gab einen Tag danach.

Im "Kulturklub.berlin": Pianist Dieter Janik spielt mit all seiner Atlantikerfahrung als reisender Musiker endlich im sicheren Hafen (Foto: Pollok PIctures)

Im „Kulturklub.berlin“: Pianist Dieter Janik spielt mit all seiner Atlantikerfahrung als reisender Musiker endlich im sicheren Hafen (Foto: Pollok PIctures)

Das erzählt mir der Pianist an einem Abend letzte Woche im historischen Hafen. Er scheint, das Wasser nicht ganz und gar hinter sich lassen zu können. Denn Dieter Janik spielt im Bauche eines Saalemaßkahns, der hier im Hafen liegt, hier in Berlin auf der Spree. An den Atlantik fühlt er sich bestimmt selten erinnert. Und an den Beinahe-Crash … aber wer weiß?

Nur durch Zufall bin ich in den Kahn gefallen, aufs weiche Sofa direkt vor Janiks E-Piano. Oben an Deck war das Bier ausgegangen. Hier unten im Boot gibt´s den „Kulturklub.berlin“, freitags mit Jazz. Die Menge der Gäste konnte man neulich zwar an anderthalb Händen abzählen, aber das hat ja die schöne Stimmung gemacht. Dieter Janik hatte auch seine Frau mitgebracht.

Am nächsten Mittwoch werden es sicher mehr Besucher werden. Dann gibt es den mittlerweile 45. Lichtbilderabend von Benedikt Goebel, der ab 18:30 Uhr Dias zum historischen Rolandufer, der Waisenstraße und der Gegend an der Stralauer Brücke zeigt – eine Ausnahme und deshalb sehr empfehlenswert. Hereinspaziert, der Kahn trägt bis zu 99 Leute.

Das Kreuz mit der Urbanität

Alle wollen sie, aber jeder versteht unter ihr etwas anderes. Auch im Salon von Lea Rosh letzten Montag bemühten die Gäste den Begriff von der Urbanität, als es erneut ums Rathausforum ging.

„Wir glauben, dass man Urbanität nur durch die Rekonstruktion des historischen Stadtgrundrisses herstellen kann“, sagte Gerhard Hoya von der Gesellschaft Historisches Berlin.

Doch Wolf-Dieter Heilmeyer von der Stiftung Zukunft Berlin verwies darauf, dass Urbanität auch soziologisch interpretiert werden kann. Leider wurde die Frage nicht weiter vertieft. Das Thema verdient sogar eine eigene Veranstaltung, finde ich: Was meint wer mit Urbanität?

Ein Buch, die Dissertation von Thomas Wüst, „Urbanität: ein Mythos und sein Potenzial“, auf das ich gestoßen bin, gibt schon mal einige Antworten, wenn auch nicht direkt zum Berliner Rathausforum.

Auch auf einen studentischen Projektbericht zum Thema Nutzungsmischung im Städtebau der TU Berlin bin ich in meinem Archiv gestoßen, bei dem wir im Jahre 1999 die Urbanitätsdebatte zusammenfassten. Hier ein Auszug:

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Eine der Zielsetzungen, die oft im Zusammenhang mit Nutzungsmischung diskutiert wird, ist die Erhaltung bzw. die Schaffung von Urbanität. Eine intakte funktionsgemischte Stadtstruktur wird häufig als Voraussetzung für Urbanität angesehen. Dieser Meinung ist z.B. Hunkenschroer, die als eine Vertreterin dieses Leitbildes der Stadtentwicklung bezeichnet werden kann.

”Die Mischung von Wohnen und Arbeiten kann in vielfältiger Weise auch in unserer Gesellschaft dazu beitragen, der Verödung von Stadtquartieren etwas entgegenzusetzen. Durch die Überlagerung mannigfacher Funktionen in dichten Strukturen entsteht Öffentlichkeit, da sich unterschiedliche Personen zu mehreren Tageszeiten im öffentlichen Raum (meist auf der Straße) aufhalten.” (Hunkenschroer, 1995: S.20)

Dabei ist für Hunkenschroer Dichte ein zentrales Merkmal von Urbanität. So sei eine Mindestdichte an Bewohnern in einem Quartier nicht nur die Voraussetzung für die Rentierlichkeit sozialer und technischer Infrastruktur sowie für Kommunikationsprozesse und Informationsflüsse.

Café Bauer Unter den linden in Berlin Ende des 19. Jahrhunderts:  (Foto: wikipedia, gemeinfrei, Autor unbekannt, Library of Congress United States)

Café Bauer Unter den linden in Berlin Ende des 19. Jahrhunderts: „Lebendigkeit im öffentlichen Raum“. (Foto: wikipedia, gemeinfrei, Autor unbekannt, Library of Congress United States)

Den Dichtebegriff bezieht Hunkenschroer darüberhinaus auch auf das Maß an städtebaulicher Konzentration (vgl. ebd.).

”Die bauliche Dichte ist auch die Voraussetzung für die Lebendigkeit im öffentlichen Raum.” (ebd.: 101)

Der urbane Charakter eines Gebietes werde jedoch endgültig erst durch eine hohe Interaktionsdichte zwischen den Bewohnern erreicht. Das bedeutet, daß unterschiedliche Nutzungstypen, wie z.B. Wohnen und Versorgung, auf einen kleinen Raum konzentriert werden müssen, und auf diese Weise eine fußläufige Erreichbarkeit ermöglicht wird. Die Folge dieser schnellen Erreichbarkeit ist, daß die Nutzung der im Gebiet ansässigen Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen intensiviert wird, und somit der urbane Charakter des Gebiets zunimmt.

Hoffmann-Axthelm beschäftigt sich insbesondere mit der inszenierten Urbanität, die er als von der eigentlichen Stadt gelöst sieht. Demnach sind urbane Lebensverhältnisse nicht mehr an die Stadt gebunden. (vgl. Hoffmann-Axthelm, 1996). Vor dem Hintergrund der Suburbanisierung ist Urbanität für ihn der Stadtrest, …

”den diejenigen mitnehmen wollen, die sich aus dem Sozialvertrag Stadt (…) herausstehlen ins grüne (…) Umland” (Hoffmann-Axthelm 1996:55).

In diesem Zusammenhang unterscheidet er drei Typen von künstlicher Urbanität:

Der erste sei die gewöhnliche Innenstadt mit Einkaufszentren, die im geschützten Innenraum Stadt simulieren. Urbanität bedeutet hier Einkaufs- und Freizeitumgebung, verknüpft mit Kino, Restaurants, Cafés und Warenhaus. Die Mischung beschränkt sich hierbei auf das oben genannte Angebot an Konsumeinrichtungen, klammert jedoch eine Vielzahl an Funktionen, wie z.B. Handwerk, produzierendes Gewerbe und bestimmte Dienstleistungen, aus.

Im Vergleich zu diesem Urbanitätstyp ist der Zweite nur noch auf tourismusorientierte Funktionen beschränkt. Hoffmann-Axthelm beschreibt, daß sich das städtische Geschehen in den historischen Zentren fast ausschließlich auf die Erdgeschoßbereiche konzentriert.

Altstadt Trier: gefüllte Straßen. Echte römische Historie. Geht sowas in Berlin? (Foto: André Franke)

Altstadt Trier: gefüllte Straßen. Echte römische Historie. Geht sowas in Berlin? (Foto: André Franke)

Die dritte Art von inszenierter Urbanität ist fast vollständig von der Nutzungsmischung losgelöst. Das heißt Lebendigkeit wird durch eine Festivalisierung der Städte erzeugt, wobei sie ausschließlich wegen bestimmter Ereignisse oder Attraktionen besucht werden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Neubau von Unterhaltungskomplexen, wie z.B. am Potsdamer Platz in Berlin. (vgl. ebd.). Hier gruppieren sich die Investitionen um einen ”unterhaltungsindustriellen Kern”.

”Bei Debis (…) ging es schon sehr früh um ein Musicaltheater. Der Medienkonzern Sony baut im Innern seines Komplexes eine riesige multimediale Bühne, einen Raum, der zugleich Bildschirm und Film, Stadtraum und simulierte Stadt ist.” (ebd.: 60)

Die Typisierung Hoffmann-Axthelms macht deutlich, daß Nutzungsmischung nicht das einzige Instrumentarium ist, um den städtischen Raum zu beleben. Von besonderer Bedeutung für sein Urbanitätsverständnis ist eine ausgewogene soziale Mischung, die zwangsläufig ein erhöhtes Konfliktpotential in sich birgt. Wenn man diese Mischung aus unterschiedlichen ethnischen Bevölkerungsgruppen, sozialen Bevölkerungsschichten sowie mehreren Generationen näher betrachtet, wird deutlich, daß ein hohes Maß an Toleranz und Kompromissbereitschaft bei den Bewohnern erforderlich ist. (vgl. Hoffmann-Axthelm, 1996) Dies kann jedoch nicht vorausgesetzt werden (vgl. Gruen 1975, Schäfers 1997, Hunkenschroer 1995).

Die sich aus der Mischung ergebenden Konflikte sind dagegen ein Hauptpunkt der Kritik am Leitbild der durch Nutzungsmischung erzeugten Urbanität. So schreibt Jakhel, daß die soziale Integration innerhalb eines gemischten Viertels nicht überschätzt werden sollte (Jakhel, 1976: S.83). Er bezweifelt, daß räumliche Planung Lebendigkeit im Stadtgebiet hervorrufen und die Integration des Stadtbürgers in das Stadtgeschehen bzw. in das Marktgeschehen fördern kann. Auch die Tendenz zur sozialen Segregation kann seiner Meinung nach nicht allein durch die Gestaltung des Raumes aufgehoben werden.

Eine ähnliche Haltung vertrat bereits Anfang der 60er Jahren SalinEr bezweifelt, daß Raumplanung tatsächlich urbane Verhältnisse erzeugen könne. Salin definiert Urbanität als …

”kulturell – gesellschaftliche Lebensform, weltoffene Haltung der Bewohner zueinander und gegenüber Fremden, aber nicht (als) die Qualität einer besonderen städtebaulich – räumlichen Struktur.” (in: Sieverts, 1998)

Literaturliste:

  • Hoffmann-Axthelm, Dieter 1996: Anleitung zum Stadtumbau. Frankfurt/M. New York
  • Hunkenschroer, Birgit 1995: Mischung von Wohnen und Arbeit als Potential für eine stadtverträgliche Gewerbentwicklung. Diplomarbeit. Berlin
  • Jakhel, Rudolf 1976: Illusion und Realität der ‚urbanen‘ City: Ein Beitrag zur Kritik der urbanistischen Ideologie, Aachen
  • Sieverts, T. 1998: Zwischenstadt, Braunschweig u.a.

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Ich bin mal gespannt, wie weit man sich bei der anstehenden Stadtdebatte „Alte Mitte – neue Liebe?“ mit diesem Thema befassen wird. Die Auftaktveranstaltung dazu findet am 18. April statt.

Zum Thema Rathausforum und Urbanität siehe auch: „Hingehen, sehen lernen“ – Ein Interview mit Verena Pfeiffer-Kloss von Urbanophil e.V. auf Futurberlin.de

Partizipation des Vergessens

Es ist schon ganz schön viel verlangt, was Stefan Evers sich da wünscht. “Mit einem weißen Blatt Papier” sollten wir in den Stadtdialog ums Rathausforum gehen. Der stadtentwicklungs-politische Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus hat da schlichtweg eine Unmöglichkeit geäußert. Oder eben einen Wunsch.

Rathausforum, Design der website www.stadtdebatte.berlin.de (zebralog). Um diesen Stadtraum geht´s

Rathausforum, Design der website www.stadtdebatte.berlin.de (zebralog). Um diesen Stadtraum geht´s

Die Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur “Berliner Mitte” vom letzten Montag hatte Ausnahmecharakter. Es wirkte, als fände sie in einem geschützten Raum statt. Und dieser Raum kam zustande, weil jedem klar war, dass es heute nicht um Inhalte ging, sondern um die Form. Zebralog, Agentur für crossmediale Bürgerbeteiligung, stellte das “Prozessdesign” für das Debattenprojekt ums Rathausforum vor. Heute wurde nicht geboxt, sondern der Boxkampf verabredet.

Maria Brückner (links) und Daniela Riedel von zebralog: "Bürgerbeteiligung muss auch Spaß machen."

Maria Brückner (links) und Daniela Riedel von zebralog: „Bürgerbeteiligung muss auch Spaß machen.“

Und das ist nicht einmal das falsche Wort. Antje Kapek von den Grünen, wünschte sich ausdrücklich, dass die anstehende Diskussion “knackig und kontrovers” geführt werde. Bisher war es so, dass die Debatte, ob Freiraum oder Bebauung, in den Medien und über Veröffentlichungen ausgetragen wurde. Ein Vorschlag jagte den anderen. Alle waren sie unverbindlich. Und die Giganten der Stadtplanung blieben unter sich, in ihren eigenen Veranstaltungen und übten am Punching Ball. Jetzt sollen sie sich treffen. Jetzt MÜSSEN sie sich treffen. Denn wer bei diesem Partizipationsprojekt, das sich an alle wendet, nicht mitmacht und später meckert, dem wird niemand mehr zuhören. Wenn am 18. April mit der Auftaktveranstaltung im bcc am Alex der Gong zur ersten Runde schlägt, darf es kein Ausweichen mehr geben.

Dr. Benedikt Goebel, Historiker und Mitglied des Kuratoriums. Johanna Schlaack (links), von Think Berlin und ebenfalls im Kuratorium

Dr. Benedikt Goebel, Historiker und Mitglied des Kuratoriums. Dr. Johanna Schlaack (links), von Think Berlin und ebenfalls im Kuratorium

Kommen wir zu den Ringrichtern. Es gibt sie wirklich, nämlich als 14-köpfiges Kuratorium, das aus Experten besteht, die über das Verfahren wachen sollen. Am Montag bekamen wir zumindest acht von ihnen zu sehen, was ich als Veranstaltungselement sehr sympathisch fand. Aber an der Zusammensetzung des Gremiums entzündet sich Kritik. So ist an einer Schreibtafel zu lesen: “Im Kuratorium gibt es nur einen Historiker!” Die Teilnehmer der Veranstaltung konnten hier auf Akteure hinweisen, die ihrer Meinung nach im Stadtdialog noch fehlten.

Daniela Riedel und Maria Brückner von Zebralog erklären vorher Struktur und Ablauf des breitangelegten Stadtdialogs, betitelt mit: “Alte Mitte – neue Liebe?” Nach der Auftaktveranstaltung im April als Aufwärm-Event gibt es eine Online-Beteiligung. Sie wird mit Werkstätten, Spaziergängen, Kolloquien, Ausstellungen, sogar mit Theater kombiniert. Die Ergebnisse gelangen über “entsandte” Bürger ins Halbzeit-Forum. Hier entscheiden die Entsandten über die weiteren Schwerpunkte, die nach der Sommerpause zu vertiefen sind. Im November dann: das Abschluss-Forum mit einem “offenen” Ergebnis.

Prozessdesign der Stadtdebatte "Alte Mitte - neue Liebe?" 2015 (Quelle: zebralog)

Prozessdesign der Stadtdebatte „Alte Mitte – neue Liebe?“ 2015 (Quelle: zebralog)

Diese “Ergebnisoffenheit” hat manchem an diesem Abend zu schaffen gemacht. Eine Frau sagt, sie finde den Prozess nur deshalb ergebnisoffen, weil sie das Beteiligungskonzept für schwammig hält. Riedel erklärt, das Ergebnis müsse inhaltlich offen bleiben, aber ein Ergebnis als solches müsse es auf jeden Fall geben. Empfehlungen, Leitlinien, Vorschläge können das sein. Sie werden dem Abgeordnetenhaus vorgelegt, das 2016 über alles weitere entscheidet. Viele zweifeln daher an der Verbindlichkeit des Ergebnisses. Das ist an einem spontanen Meinungsbild mit Klebepunkten deutlich zu erkennen. Warum dann überhaupt mitmachen?

Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Andreas Geisel (SPD), Nachfolger von Michael Müller

Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Andreas Geisel (SPD), Nachfolger von Michael Müller

Weil es ein Experiment ist. So versteht es auch Andreas Geisel. Der neue Stadt-entwicklungssenator will, dass die Kontrahenten aufeinander zugehen, auch die eigene Meinung in Frage stellen und lernen. “Nicht in den Prozess reingehen, um zu gewinnen”, sagt er. Das klingt weniger nach Boxen. Das geht eher in Richtung Capoeira, den brasilianischen Kampftanz. Man setzt sich miteinander auseinander, aber niemand erleidet einen ernsthaften Schaden.

24 Stunden nachdem Geisel dies in seinen Schlussworten sagte, hat einer vorgemacht, wie dieses “Aufeinander Zugehen” aussehen könnte. Benedikt Goebel kommentierte vergangenen Dienstag in einem Vortrag über “Die vergessene Schönheit der Berliner Altstadt” auch ein Bild aus DDR-Zeiten. Abgebildet war der junge Freiraum am Fuße des Fernsehturms (das Rathausforum), ein coloriertes Foto, das die sozialistische Stadt von ihrer Sonnenseite zeigt (es war ein vergleichbares Foto wie unten). Goebel, der Historiker aus dem Kuratorium, gestand dem Ort in seinem damaligen Zustand eine eigene Schönheit zu (die er heute natürlich nicht mehr habe). Zugeständnisse dieser Art sind mir im Bürgerforum Berlin bisher nicht zu Ohren gekommen. Find ich gut.

Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree zu DDR-Zeiten. Im Hintergrund: Palast der Republik. Blick in westliche Richtung +++ Foto: John Spooner, „Berlin - Hauptstadt der DDR“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Alle Bilder stammen aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de

Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree zu DDR-Zeiten. Im Hintergrund: Palast der Republik. Blick in westliche Richtung +++ Foto: John Spooner, „Berlin – Hauptstadt der DDR“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de
Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de

Stefan Evers´ Ideal vom “weißen Blatt Papier” bleibt in meinen Augen aber eine absolute Illusion oder erfordert die Kunst des Vergessens. Das gilt zumindest für Fachleute und Initiativen. Bei demselben Vortrag, der zu einer Veranstaltungsreihe in der Volkshochschule Mitte gehört, wurde geboxt. Eine Dame, die sich als Berlin-Gast ausgab, äußerte ihre ganz persönliche Stadtwahrnehmung. Sie deckte sich aber nicht mit der vorherrschenden Meinung im Raum. Eine gestandene Architektin konterte die Touristin in den Boden, dass Ex-IBA-Moderator Hildebrand Machleidt sie mit warmen Worten nach der Veranstaltung wieder auf die Beine zu bringen gedachte. Das zeigt, wie unverrückbar Haltungen sein können, die mit jahrelanger Arbeit und Leidenschaft aufgebaut, gepflegt und in die Welt getragen wurden. (Diese Arbeit verdient nebenbei gesagt auch Respekt.)

Für die Dame, die für eine ganze Interessensgruppe steht, war das “weiße Blatt Papier” allerdings Realität. Sie sieht die Stadt wie sie ist – ohne Bilder. Schade, dass dieser fruchtbare Moment am Dienstag in der Volkshochschule nicht für eine Diskussion genutzt wurde. Ihre Frage war doch eine Steilvorlage für jeden, der sich mit Stadt auskennt: “Dann erklären Sie mir, wie die Stadt funktioniert …” Allein, es blieb keine Zeit mehr dafür. Ein bisschen unglücklich war´s.

Solche Begegnungen zwischen “beschriebenen und unbeschriebenen Blättern” werden sich im Stadtdialog “Alte Mitte – Neue Liebe?” mit Sicherheit wiederholen. Dann wird es darauf ankommen, wie weit Experten Nichtfachleute mitnehmen können. Denn Zebralog hat das Prozessdesign auf eine breite Beteiligung angelegt. “Vergessen” wir also zumindest nicht den 18. April. Drei Tage nachdem die Dialogwebsite Online ging, hatten sich schon 170 Teilnehmer für die Auftaktveranstaltung angemeldet – übers Wochenende.


website des Stadtdialogs „Alte Mitte – neue Liebe?“ unter www.stadtdebatte.berlin.de (mit Anmeldung, Umfrage und Newsletter)

Livestream und Video-Aufzeichnung der Veranstaltung vom 15. Februar im Umspannwerk Alexanderplatz der Friedrich-Ebert-Stiftung unter www.sagwas.net

nächster Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Berliner Stadtkerns“ des Bürgerforums Berlin e.V. in der Volkshochschule Mitte am 3. März, dann das Thema „Totale Transformation – Stadtumbau zwischen 1840 und 1939“, mit Historiker Dr. Benedikt Goebel (kostenfrei, Anmeldung prinzipiell nicht nötig, aber erwünscht, und zwar hier)

21 Tonnen am Stück ohne Schnitt und Fuge? Schlossbildhauer: Das hätt´s bei Schlüter nicht gegeben

Eine Stunde und einundzwanzig Minuten braucht ein Mensch in Berlin, um vom U-Bahnhof Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg zum Askanierring 74 in Spandau zu gelangen – zumindest mit den Öffentlichen. Das ist länger als meine weihnachtliche oder österliche Heimreise ins sachsen-anhaltische Karow dauert. Warum also dorthin fahren? Weil an dieser Adresse die mittigste Mitte der Stadt gespachtelt wird und gebildhauert: die an den Rohbau des Humboldtforums zu hängenden, spendenfinanzierten Barockfassaden in der sogenannten “Schlossbauhütte”.

An einem sonnigen Februarsonntag: das Schlossportal III (Eosanderportal), das sich noch ohne die Portalkrönung zeigt, an der Bildhauer Frank Kösler in der Schlossbauhütte in Spandau gegenwärtig noch arbeitet (Foto: André Franke)

An einem sonnigen Februarsonntag: das Schlossportal III (Eosanderportal), das sich noch ohne die Portalkrönung zeigt, an der Bildhauer Frank Kösler in der Schlossbauhütte in Spandau gegenwärtig noch arbeitet (Foto: André Franke)

Ungefähr 10.000 Steine bearbeiten die Bildhauer hier. Kleine und große, neue und Originale. Ich treffe auf der Führung, die der Architektur- und Ingenieurverein zu Berlin organisiert hat, das Säulen-kapitell wieder, das jahrzehntelang an der Ruine der Kloster-kirche lag, und natürlich gibt es hier sehr viele Adler, über die ich heute alles andere als spotten will (die Satire gibt´s hier).

Eher ergreift mich eine Ahnung von der Größe, der Komplexität der Rekonstruktionsaufgabe, die sich die Schlossstiftung gestellt hat. Es ist ein Puzzle aus tonnenschweren Steinskulpturen, die alle zuerst in Gips modelliert und zuvor ins korrekte Maß gebracht werden müssen. Schlüter, sagt Bertold Just, Leiter der Schlossbauhütte, arbeitete vor dreihundert Jahren mit dem “Rheinischen Fuß”. Franco Stella dagegen denkt und liefert die Pläne metrisch. Die Bildhauer rechnen um, skalieren in dieser Hütte, damit 2019 in Mitte alles passt.

Einer von ihnen ist Frank Kösler. Die klassische Musik, die auf der Tour in der Halle im Hintergrund zu hören ist, kommt von seinem Arbeitsplatz. Bautzener Senf steht auf einem kleinen Pausentisch und eine Packung Salz. Der Bildhauer ist mit einer Portalkrönung beauftragt, an der er seit September arbeitet. Kösler versteht Steine. Er beschreibt mit seinem ganzen Körper, wie sie sich setzen und Ruhepunkte suchen, sich später aber dennoch bewegen. Unbegreiflich ist ihm, warum der Stein, den er mit seinen zwei Töchtern gestaltet (es ist der größte, der in einem Stück an die Fassaden angebracht wird und er wiegt 21 Tonnen), nicht geschnitten und gefugt wird. Bei Schlüter hätte es sowas nicht gegeben, sagt er und prophezeit Risse. “Kollege Sollbruchstelle”, ein Wort Köslers, ist im Gipsmodell schon zu sehen.

Kösler versteht auch Barock. Er lebt ihn, um ihn produzieren zu können, das erklärt er auch ganz ausdrücklich in einem Stiftungs-Video über die Schlossbauhütte und stellt es live unter Beweis (zum Video hier). Spuren der barocken Lebensfreude, die er für seine Arbeit zur Praxis erhebt, stehen auf dem Tisch gleich neben dem Senf: drei leere Flaschen Budweiser. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können und war nicht der einzige, der am Ende der Führung noch lange bei ihm stehenblieb, als der Barockbildhauer leidenschaftlich ausführte, dass man nicht mit jedem Stein alles machen könne, zum Beispiel mit schlesischem Sandstein nicht schlüterschen Barock. Und er prophezeit, dass das Ergebnis entsprechend aussehen werde. – Eine Stunde und einundzwanzig Minuten denke ich auf dem Heimweg darüber nach, was ich von dem Projekt jetzt halten soll. Aber die Zeit, die vorher lang war, ist für die Antwort zu kurz.

Wie ein „Bordeaux“: Stadtkern-Kurs an der VHS wirbt für Berlin-Geschichte, aber auch für die eigene Meinung

Mit der Berliner Altstadt sei es wie mit Bordeaux-Weinen, sagt Benedikt Goebel, der im Namen des Bürgerforums Berlin am Dienstag in die Volkshochschule zum Auftakt der Veranstaltungsreihe „Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Berliner Stadtkerns“ einlud. 

„Es dauert ein Weile bis man zum Kenner wird, aber bis dahin hat man einfach eine schöne Zeit.“

Multifunktionsraum in der VHS-Mitte mit den pünktlichen Gästen. Es kamen mehr als zu sehen sind. (Foto: Christina Kautz)

Multifunktionsraum in der VHS-Mitte mit den pünktlichen Gästen. Es kamen mehr als zu sehen sind. (Foto: Christina Kautz)

Der multifunktionale Raum 1.12 in der Linienstraße 162 war gut besucht. Die VHS lieferte Stühle nach. Die Landschafts-architektin Christina Kautz und der Architekt Lutz Mauersberger hielten einen bilderreichen Vortrag über den Ursprung der Doppelstadt Berlin-Cölln und der historischen Stadtentwicklung an der Spree und dem Spreekanal. Und jene Bilder sind es eben, die einen zum Genießer werden lassen, bevor man sich versieht, weil sie Berliner Orte zeigen, die es nicht mehr gibt: Packhöfe, Oberbäume, Unterbäume, Schleusen, Pferdeschwemmen, Wasserkunst, Brückenschmuck, Fischkästen. Und Flussbäder.

Projekt Flussbad Berlin: renaturierter Spreekanal für ein sauberes Schwimmbecken direkt am Lustgarten (Bild: Flussbad Berlin e.V., realities:united)

Projekt Flussbad Berlin: renaturierter Spreekanal für ein sauberes Schwimmbecken direkt am Lustgarten (Bild: Flussbad Berlin e.V., realities:united)

Wobei die historischen Spree-Flussbäder hier eine ziemliche Steilvorlage boten für die Diskussion über das Zukunftsprojekt „Flussbad Berlin“, das auf 750 Meter Länge zwischen Bodemuseum und Schleusenbrücke gebaut werden soll und mit vier Millionen Euro aus dem Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ öffentlich gefördert wird (hier mehr zum Projekt).

Das wird beim Bürgerforum sehr kritisch gesehen. Und Gründe, dem Flussbad-Projekt skeptisch gegenüber zu stehen, gibt es einige, zum Beispiel die Standortwahl: Man brauche sowas nicht an einer prominenten Stelle wie der Museumsinsel, meint Christina Kautz. Lutz Mauersberger macht auf den Preis aufmerksam, mit dem das Schwimmbecken bezahlt wird: die Filteranlage und Moorlandschaft, die den restlichen Spreekanal bis zur Mündung ausfüllen sollen. Und Benedikt Goebel ergänzt, dass Projektbilder eben auch nicht riechen. Sprich: das Projekt beeinträchtige potenziell die Wohnqualität an den angrenzenden Ufern, zum Beispiel auf der Fischerinsel.

Für einen Volkshochschulkurs könnte das für manchen ein bisschen viel Meinung gewesen sein. Oder auch nicht. Kennerschaft bringt am Ende eben auch ein handfestes Urteilsvermögen mit sich. – Prost.


Zum „Flussbad Berlin“ wird es beim Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (AIV) am 23. Februar eine Veranstaltung geben.

Der nächste Kurstermin für angehende und schon gereifte Stadtkernkenner findet in der VHS Mitte am 17. Februar statt, dann unter dem Thema „Vergessene Schönheit der Berliner Altstadt“.

Kommen unkompliziert: keine Anmeldung nötig, kostenfrei, und Stühle gibt es auf jeden Fall genug.

Marsch in die Mall! – wenn auch ein bisschen spät, werte Kaufsoldaten

Die Eröffnung des Leipziger Platz Quartiers verzögert sich. Dennoch steht der “Alte Dessauer” bereit und leitet die zukünftigen Besucherströme in die neue Shopping Mall – bald, vielleicht im Herbst

Warenhaus Wertheim Leipziger Platz, "Frau Wertheim"

Lichthof des alten Warenhaus Wertheim mit Kupferstatue „Frau Wertheim“

Es war sein Lichthof, der das Besondere war. Und das Besondere wird wieder ein Lichthof sein. Mit der überdachten Piazza zitieren die Architekten des Leipziger Platz Quartiers das Herzstück des einstigen Warenhauses Wertheim. Zwischen den Weltkriegen war es das größte in Europa, nach dem Mauerbau war es weg. Und mit ihm auch der Lichthof mit der an den Treppen postierten sechs Meter hohen Kupferstatue “Arbeit”, von den Mitarbeitern auch “Frau Wertheim” genannt. Am Bauzaun Leipziger Platz Nr. 12 war sie in den letzten Monaten zu sehen. Aber die neue Piazza braucht Statuen nicht, sie bietet den Besuchern den Blick auf die Borussia im Giebel des Bundesrats.

Seit dreieinhalb Jahren wird am Leipziger Platz gebaut und gleichfalls an der Voss-, Wilhelm- und Leipziger Straße. Was hier auf einer Geschossfläche von 21 Hektar entsteht, ist mehr als nur ein Lückenschluss in der Barockform des achteckigen Platzes, des „Octogons“. Das Leipziger Platz Quartier der High Gain House Investment GmbH (HGHI) des Unternehmers Harald G. Huth ist ein Brückenschlag zwischen den vier Himmelsrichtungen. Vom Westen werden die Besucher das Quartier auf ihrem Weg in den Osten zum Gendarmenmarkt passieren, vom Norden kommen sie vom Holocaust-Mahnmal direkt in die Piazza hereinmarschiert, motiviert vom durchscheinenden Portal des ehemaligen Preußischen Herrenhauses, das das Bundesratsgebäude einmal war. Im Herbst, sagt ein Bauarbeiter, könnte es mit dem Flanieren und Konsumieren losgehen, wobei die Eröffnung eigentlich schon diesen Frühling geplant war.

Leipziger Platz Quartier vom Kollhoff-Tower aus

Neues Leipziger Platz Quartier: fast fertig, Blick vom Kollhoff-Tower auf auf die Dächer der Gebäude an Leipziger Straße und Vossstraße, Juni 2004

„Shopping is coming home”, verkündet der Bauherr an den Bauzäunen und schlägt eine Brücke auch von der Historie in die Gegenwart. Das Leipziger Platz Quartier wird in der Hauptsache ein Einkaufszentrum mit 270 Läden auf 76.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. “Wir erinnern in unserem Projekt an das alte Wertheim-Warenhaus”, sagt Huth. Mittendrin wird es aber auch ein Hotel geben. Drumherum und obendrauf entstehen 175 Townhouses und Apartments, auch Büros, wie im alten Vosspalais. Das denkmalgeschützte Palais mit der roten Sandsteinfassade ist die authentische Perle in dem Projekt, 130 Jahre alt und das einzige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert weit und breit. Geschäfte des gehobenen Einzelhandels sollen hier einziehen, von wo aus man einst auf die 420 Meter lange Fassade von Hitlers neuer Reichskanzlei blickte. Die Vossstraße im Norden des Shopping-Districts ist eine historisch brisante Gegend. Aber das kann man von der Wilhelmstraße im Osten des Quartiers genauso sagen. Immerhin ist die Hauptstraße des alten Regierungsviertels heute eine “Geschichtsmeile”. Der interessierte Flaneur durchzieht sie und durchliest sie von Unter den Linden kommend auf seinem Weg zur “Topografie des Terrors”. Es ist davon auszugehen, dass die Meile ihre Spaziergänger Ecke Vossstraße kraft des Konsums verlieren wird. Denn “Shopping is coming home”.

Harald G. Huth investiert dafür etwa 800 Millionen Euro. Nach Angaben von HGHI sind mindestens 95 Prozent der Flächen vermietet. Einziehen werden die einschlägigen Marken, die man auch andernorts kennt, zum Beispiel aus den Potsdamer Platz Arkaden. 45 Handelsketten, die heute schon im benachbarten Shopping-Center an der Alten Potsdamer Straße zu finden sind, werden ihr zweites Standbein im Leipziger Platz Quartier errichten, schreibt der Tagesspiegel, darunter H&M, Esprit und Zara. Der Elektronikfachmarkt Saturn entscheidet sich sogar komplett für den Leipziger Platz und damit für ein fast doppelt so großes Einkaufszentrum. Die 40.000 Quadratmeter umfassenden Arkaden bekommen eine große Schwester.

Warenhaus Wertheim, 1920er Jahre

Alfred-Messel-Bau: schlanke Granitpfeiler in Warenhausfassade am Leipziger Platz, 1920er Jahre

Erstaunlich, dass beide Shopping-Center zusammen fast auf die 108.000 Quadratmeter kommen, die der Nutzfläche ihres Ahnen, des Warenhauses Wertheim entsprachen. Es hatte eine Schaufensterfront von 330 Meter Länge. Alfred Messel hatte es ab 1897 gebaut. Schlanke, durchlaufende Granitpfeiler strebten in der Hauptfassade des Hauses bis unter die Traufe. Sie prägten das Stadtbild am Leipziger Platz. Messel baute oft für Wertheim. Einziges Zeugnis dessen steht heute in der Rosenthaler Straße in Mitte. Dort blickt man auf die kunstvoll detaillierte, denkmalgeschützte Pfeilerfassade des Warenhauses Wertheim, das Messel dort 1903 baute.

Das neue Leipziger Platz Quartier ist eine Schöpfung der Architektengemeinschaft NPS Tchoban Voss/Architekturbüro Pechtold, die mehr als ein einzelnes Gebäude entwirft. Das Einkaufszentrum, das Hotel, die Büros und die Wohnungen fügen sich ins Format der traditionellen Berliner Blockrandbebauung ein. Betrachtet man die Piazza als Straße, entstehen zwei Blöcke mit begrünten Innenhöfen und mit Gebäudehöhen, die sich an der Berliner Traufhöhe von 22 Meter orientieren – so hoch war auch der Lichthof von “Frau Wertheim”.

Leipziger Platz, barockes "Octogon" beinahe wiederhergestellt, Juni 2014

Leipziger Platz, Juni 2014: barockes „Octogon“ beinahe wiederhergestellt

Es gibt am Leipziger Platz bald eine Lücke weniger, und das barocke “Octogon” mit seinen acht Platzecken tritt wieder hervor. Eine Wunde heilt. Oder mit den Worten des Stadtplaners Dieter Hoffmann-Axthelm gesagt: Das “Widerlager” für das “Westberliner Triumphtor” entsteht, womit er die Hochhäuser des Potsdamer Platzes meint.

An die Berliner Mauer, die den Platz überquerte, wird im Quartier nichts erinnern. Sechs Teile von ihr stehen ja auch direkt auf dem Platz, und wer mehr davon will, der findet in der Erna-Berger-Straße einen “Rundblickbeobachtungsturm” vom Typ BT6, zu dem ein Durchgang am Dalimuseum führt.

Der "Alte Dessauer" treibt sie alle in die Shopping-Mall, und zwar im Gleichschritt! Der hat schon ganz andere unter ganz anderen Bedingungen ganz woanders hochgejagt.

Der „Alte Dessauer“ treibt sie alle in die Shopping-Mall, und zwar im Gleichschritt! Der hat schon ganz andere unter ganz anderen Bedingungen ganz woanders hochgejagt.

Eine Statue gibt es dann doch noch, die für das Quartier von Bedeutung sein könnte: Auf dem Weg zur Friedrichstraße treffen die Shoppenden am Zietenplatz auf Fürst Leopold von Dessau. Er ist im Gegensatz zu „Frau Wertheim“ nicht aus Kupfer, sondern Bronze und hält keinen Warenkorb, sondern die Hand am Säbel. Vom “Alten Dessauer” erzählt der Historiker Siegfried Fischer-Fabian, dass der General in Kesselsdorf im Krieg für Friedrich den Großen “mit seinen Männern einen eisbedeckten Hang hinauf gegen eine aus 34 Geschützen bestehende sächsische Batterie anstürmte”. Er hat auch den Gleichschritt eingeführt. – Man nehme sich also in Acht und gehorche auch den tieferliegenden Gesetzen des Ortes, marschiere in die neue Piazza ein und kaufe, kaufe, kaufe.

(Artikel erschienen auch in: Berlin vis à vis, Nr. 56, Herbst 2013, allerdings leicht verändert)

Berliner Zaunkönige anno 2013

Sie schaffen Klarheit und Ordnung, teilen die Welt in ein Drinnen und Draußen, in ein Hier und ein Drüben: Zäune sind wieder beliebt in Berlin. Immerhin haben sie Tradition. Ab 1527 hielt ein Zaun das Wild im Wald, der vor dem Schloss der jagenden Kurfürsten lag. 1961 hielt ein weiterer scheinbar wild gewordenes Ostvolk zurück, und die Jagd am Zaun begann von Neuem. 2010 gab es dann den ersten mit regulären Zaunschließzeiten. Drinnen zu sein, auf der Tempelhofer “Freiheit”, war plötzlich ein Privileg. 250 Protestierende forderten die versprochene Freiheit ein und wollten sie auch in der Nacht. Der Zaun steht noch. Der folgende noch nicht: Um den Tiergarten soll einer gebaut werden, wie seit dem Sommer immer wieder berichtet wird. Es ist einer, der Sicherheit verspricht, nicht Freiheit. Gegen den Tiergartenzaun hat sich zwar die Bezirksverordnetenversammlung von Mitte ausgesprochen, aber Mittes BVV-Beschlüsse wackeln mitunter auch. Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) will den Zaun ja immer noch. Und ein anderer will einen anderen jetzt auch um den Görlitzer Park errichten. Timur Husein, Bezirksverordneter der CDU in Friedrichshain-Kreuzberg, setzt sich für einen eingezäunten Görli ein, wie der Tagesspiegel berichtet. Aber momentmal, steht um den Görli nicht noch die alte Bahnhofsmauer? Wilde Zeiten sind das, neue Zäune … hohe Zäune. Es ist die Renaissance des Berliner (Jagd-) Reviermanagements.

Und so klingt der Wunsch nach Gehege vom 13. Mai 1527 aus der Feder des Kurprinzen Joachim, des späteren Kürfürsten Joachim II. (aus „Der Tiergarten in Berlin“, Hrsg. Walther G. Oschilewski, arani Verlag, Berlin-Grunewald 1960, S. 5):

„Wir Joachim, von Gottes Gnaden Marggraff zu Brandenburg, der Jüngere, zu Stettin, Pommern, der Cassuben und Wenden Herzogk. Burggraff zu Nürenbergk und Fürst zu Rügen, Bekennen und thun kund öffentlich mit diesem Briefe für Unß, unsere Erben undt Nachkommen und sonst aller männigklich die ihn sehen, hören oder lesen, Nachdem unß Unser lieben getrewen Burgemeister, Rath, Gewerck undt gantz Gemeinde der Stadt Collen allhier auß Unterthenigen geneigten willen off unser gnädig und gütlich ansuchen, zu sondern gefallen für Unß, Unser Erben undt Nachkommen ein Platz und Raum, dahinden bey der freyen Arch, zu einem Thier- und Lustgarten auffzurichten undt zu machen vorgünt undt gutwilliglich zu eigen eingeräumet undt abgetreten, dass Wir Ihn dan in Gunst und Gnaden billich dankbar sein. Also gereden und aussprechen wir hierauff für Unß, Unser Erben und Nachkommen in gegenwertiger Krafft und Macht dieses Brieffes, ob sich in künftiger Zeit begeben, das Wir oder Unsere und Nachkommen solchen Platz und Raum zum Thier- und Lustgarten ferner nicht haben, sondern denselben wieder vergehen lassen würden und wolten, das Wir oder Unsere Erben undt Nachkommen alßdann den vermelten Platz und Raum, so viel sie unns daran gegeben, Niemants ander, dan dem gedachten Bürgemeister, Rath, gewerken undt Gemeinder zu Jederzeit Ihren Nachkommen wiederumb einräumen, zustellen und zueignen sollen, ohn einig hinder oder gefehr. Darzu sollen und wollen Wir bei Unserm Lieben Herrn und Vater, dem Churfürsten zu Brandenburg von solcher Zustellung wegen des Platzes zum forderlichsten darob undt an sein, das Ihnen daßelbe zu keinen Ungnaden oder Nachtheil gereichen soll. Getreulich Ungefehrlich. Zu Urkund mit Unserm hierunten uffgedruckten Secret besiegelt und gegeben Collen an der Spree am Sontage Cantate Anno MDXXVII.“

Wer wird Berlins neuer „Zaunkönig“ anno MMXIII? Die Königsfrage hat bei den Vögeln übrigens auch mit List zu tun, erzählen jedenfalls die Brüder Grimm im gleichnamigen Märchen.

 

Volksgefährt a.D. sucht Palastparkplatz – Warum der Schlossmission weiterhin nicht zu trauen ist

Als Bundesbauminister Peter Ramsauer (CSU) vergangenen Mittwoch von den Wahrheiten der zukünftigen Schlossarchitektur sprach, konnte man durchaus ungläubig werden – selbst wenn man sich zu den Schlossbefürwortern zählen sollte. Bei der Grundsteinlegung verkaufte er den Architekturmix aus zeitgenössischen und Barockfassaden als Geste für ein Geschichtsverständnis, das immer auch „verschiedene Wahrheiten“ gelten lasse. Der Ort hätte nach seiner Auffassung also nur zwei Geschichten zu erzählen: die des Schlosses der Berliner Könige und Kaiser auf der einen Seite und die Geschichte des zukünftigen Humboldtforums auf der anderen. Das konnte natürlich auch eine rhetorische Raffinesse gewesen sein, die Volkspalastgeschichte vom „Wahrheits“-Begriff komplett auszuklammern. Doch die Humboldt-Box selber zeigt, dass die Verdrängung der DDR-Geschichte auch an diesem Ort nicht möglich ist: Die taz-Autorin Nina Apin hat bei einem Besuch der „offenen Baustelle“ am Sonntag im Souvenirsverkauf in der Box Trabant-Modelle entdeckt. Die dritte Wahrheit, in Gestalt des sozialistischen Volksgefährts, bahnt sich ihren Weg. Immerhin war der Ort auch einmal Großparkplatz! Aber da beißt sich doch die Katze, der Bauakt, in den eigenen Schwanz. Der Schlossverein kalkuliert sein Barockprojekt mit der Attraktivität des untergegangenen Staates. Dabei setzt er in der Humboldt-Box auf die Touristen und muss sich vielleicht auch eingestehen, dass aus Besucherperspektive der DDR-Kitsch heute greifbarer ist – weil nicht so lange her -, als die schwerer zu greifende Antwort auf die Frage, warum eine Demokratie ein Gebäude der Monarchie aufbaut.

Eine Mitte der Bürgerschaft (22/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Rathausplatz und Bürgerforum

Die Zentral- und Landesbibliothek wäre nicht nur eine bürgernahe öffentliche Nutzung, mit ihr wären auch die Baukörper gegeben, um einen großen Rathausplatz baulich und räumlich zu fassen. Für einen lebendigen Ort bürgerschaftlicher Information und öffentlicher Diskussion bedarf es jedoch mehr. Es bedarf geeigneter Räumlichkeiten. Nach der Wende wurde das Staatsratsgebäude mit seinen großen Sälen und Konferenzräumen zum nach-revolutionären zentralen „Bürgerhaus“ und Bürgerforum. Dort wurden die Ergebnisse der Städtebau- und Architektur-Wettbewerbe zum Wiederaufbau der Hauptstadt vorgestellt und in überfüllten Diskussionsveranstaltungen über die Stadtentwicklung und die Zukunft des wiedervereinten Berlins debattiert.

Heute nach zwanzig Jahren erfolgreichen Wiederaufbaus fehlt in der Stadtmitte ein solcher signifikanter öffentlicher Ort, wo anhand von Stadtmodellen und Plänen die Bürger angehört und beteiligt werden, wo über Bau- und Stadtentwicklung, über Wirtschaft, Verkehr und Umwelt, über Kultur, Bildung und soziale Integration und über öffentliche Sicherheit gesprochen wird, kurz, über die Zukunft Berlins in den kommenden Jahrzehnten. Deshalb sollte das Bauprogramm für die öffentliche Bibliothek erweitert werden um Konferenz-, Ausstellungs- und Veranstaltungsräume für ein Bürgerforum. Ein Bürgerforum, das  über Internet die gesamte interessierte Bürgerschaft informiert und in die Beratung zu den öffentlichen Angelegenheiten einbezieht. Und auch eine lebendige Dauerausstellung zur Stadtgeschichte sollte nicht fehlen, mit der Erinnerung auch an 1848, 1918 und 1989, zur Ermutigung der Weiterentwicklung bürgerschaftlicher Freiheit und sozialer Demokratie. Im Mittelpunkt des Bürgerforums aber sollte die große Stadt Berlin einen großen Rathausplatz erhalten, als Markt- und Schauplatz der Bürgerschaft, zum Versammeln, Demonstrieren und  zum Feiern. Erst dann ist Berlin, die größte Stadt Deutschlands nicht nur Hauptstadt und Metropole, sondern auch lebendige Bürgerstadt.

ENDE der Serie

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (21/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Masterplan und Stadtbibliothek

Diesem für die ganze Stadt bedeutsamen städtebaulichen Wettbewerb muss nicht nur ein gestalterischer Wille zugrunde liegen, sondern ein klares stadtpolitisches Programm. Als Ergebnis muss ein Masterplan „Rathausforum – Neue bürgerschaftliche Mitte Berlins“ für das Gesamtareal die Grundlage für weitere Architektenwettbewerbe und eine schrittweise bauliche Umsetzung bieten. Es ist ein Programm für die kommenden Jahrzehnte. Die wichtigste und anspruchsvollste Aufgabe in dem neuen Gesamtensemble wird sein, als Gegenüber zum Roten Rathaus ein öffentliches Bürgerforum mit einem großen Rathausplatz zu gestalten.

Es gibt die Absicht, eine neue Zentral- und Landesbibliothek zu errichten, die ihre in der Stadt verteilten Bibliotheken unter einem Dach vereint, die Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg, die Senatsbibliothek in Charlottenburg und die Stadtbibliothek in Mitte. Als Standort ist der Flughafen Tempelhof im Gespräch. Geplant ist ein 270 Millionen teurer Neubau mit über 60 000 Quadratmetern Nutzfläche. Die Berliner Stadtbibliothek liegt heute in der Breite Straße in der historischen Stadtmitte gleich neben dem künftigen Schloss. Dort im wiedererrichteten Schloss wird als Beitrag des Landes Berlin zum Humboldt-Forum für die Zentral- und Landesbibliothek eine Fläche von 4000 qm geplant. Die Unterbringung der Abteilungen Musik, Film und Kunst sowie der Kinder- und Jugendbibliothek ist fester Bestandteil des Bau- und Finanzierungsplans des Humboldtforums.

Was ist im wahrsten Sinne des Wortes naheliegender, als auch den Neubau der Zentral- und Landesbibliothek in der Nachbarschaft anzusiedeln. Vor dem Roten Rathaus wäre ausreichend Platz. Einen zentraleren  Standort für eine Zentralbibliothek gibt es nicht. Angesichts der Haushaltsnot und zusätzlicher künftiger Belastungen des Haushalts durch die Verschiebung und Verteuerung des Hauptstadtflughafens wird die Frage des Standorts, des Bauprogramms  und des Zeitplans für den Bau einer Neuen Zentral- und Landesbibliothek neu gestellt werden müssen. Warum sollte die Amerika-Gedenk-Bibliothek im nahen Kreuzberg  nicht weiterhin Teil der ZLB bleiben, vielleicht als Berliner Fremdsprachen-Bibliothek für die Stadt mit ihrem Migrationshintergrund und ihren vielen fremdsprachigen Bürgern? Ein so abgespeckter Bau wäre eine wirtschaftlichere Lösung als ein vollständiger Neubau in Tempelhof.

Auch für die Nutzer wäre ein Standort der Zentral- und Landesbibliothek in der Stadtmitte von Vorteil. Der Standort ist eine „Lauflage“.Er ist von überall in der Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestens erreichbar und ermöglicht vielfältige Synergie-Effekte. Nicht weit liegen die Staatsbibliothek Unter den Linden und die neue Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität, das Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum. Beide sind nur wenige Schritte entfernt wie auch andere private und öffentliche Einrichtungen mit ihren Fachbibliotheken und Informationsmedien, so das Auswärtige Amt am Werderschen Markt mit Bibliothek und Archiv, die Stasi-Unterlagen-Behörde am Alex, das Deutsche Historische Museum Unter den Linden und die Museen der Museumsinsel.

Morgen: letzter Teil „Rathausplatz und Bürgerforum“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (20/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Marx und Luther

Wie das Gesamtareal zwischen Schloss und Fernsehturm neu zu gestalten ist, ob in der Nachbarschaft des Nikolaiviertels in Anlehnung an die historische Altstadt, ob in einem zeitgemäßen Maßstab, ob durchsetzt mit grünen Parks oder steinernen Plätzen, ob als Wohnviertel oder gemischtes Wohn- und Geschäftsviertel, als Ort zentraler öffentlicher Einrichtungen oder weiterhin als öffentlicher Park, dies wird  Aufgabe eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs sein.

Karl Marx und Friedrich Engels wie Martin Luther, diesen großen deutschen Propheten und revolutionären Weltbewegern, gebührt auch künftig mit ihren Denkmälern ein Ehrenplatz. Das gründerzeitliche Luther-Denkmal von 1895, erst kurz vor dem Fall der Mauer im Oktober 1989 zum 450. Jahrestag der Reformation in Brandenburg im Schatten von St. Marien aufgestellt, sollte auf einem Vorplatz der Marienkirche angemessen ins Licht gerückt werden. Das Marx-Engels-Denkmal, in den 1980er Jahren von dem Bildhauer Ludwig Engelhardt in bewusster Abkehr von sowjetischer Monumentalplastik in menschlichem Maßstab gestaltet, hat viele Besucher aus aller Welt. Es sollte eine neue würdige Umgebung finden, zum Beispiel in einem Marx-Engels-Park am Ufer der Spree mit dem Rücken zum Schloss der ungeliebten Hohenzollern.

Morgen: Teil 21 „Masterplan und Stadtbibliothek“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (19/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Der Fernsehturm und sein Sockel

Aber wie soll  eine Neugestaltung der historischen Mitte möglich sein angesichts des jeden Maßstab sprengenden Sockels des Fernsehturms? Dieses bizarre, mit Riesenstacheln in den Raum ausgreifende Beton-Faltwerk ist mit seinen Tentakeln, Wasserkaskaden und Blumenrabatten der Welt des Tivoli entsprungen, der Welt fliegender Bauten und Vergnügungsparks. Seine Dornen drohen St. Marien aufzuspießen, seine alles beherrschende Achse aus dreieckigen Becken und Rabatten stößt bis zum Neptunbrunnen vor. Sein theatralischer Gestus aber geht ins Leere.

Es wird Stimmen geben, die das monströse Stacheltier unter Artenschutz stellen wollen. Die sommerlichen Wasserspiele sind beliebt, doch gönnt der lange Berliner Winter ihnen nur eine kurze, wartungsintensive Spielzeit. Das maßlos Raum fressende Bauwerk aber verstellt jede neue bauliche Entwicklung. Es versperrt zudem den Zugang zu Alexanderplatz und dessen Bahnhof. Dorthin führen heute nur große Umwege oder Schleichwege vorbei an unfreundlichen Sockelhinterhöfen. Ein offener Zugang zum Alexanderplatz aber und umgekehrt eine einladende Öffnung des Alex zum künftigen bürgerschaftlichen Mittelpunkt Berlins würde beiden gut tun. Ein Sockel in neuer Gestalt sollte St. Marien Respekt zollen und Abstand halten. Er sollte wie die heutige Eingangshalle für das zu Aussichtsplattform und Drehrestaurant  hinaufstrebende Publikum sich ganz zu Alex und Bahnhof hin orientieren. So würde der Fernsehturm zum städtebaulichen Höhepunkt des aufwärts strebenden Alexanderplatzes, zum Primus einer wachsenden weithin sichtbaren Hochhaussilhouette.

Morgen: Teil 20 „Marx und Luther“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (18/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Historischer Stadtgrundriss und Traditionsinseln

Diese neue bürgerschaftliche Mitte sollte die Geschichte des Ortes zitieren und integrieren, indem sie den historischen Stadtgrundriss mit seinem im Untergrund verborgenen Straßennetz wieder sichtbar macht und die erhaltenen Traditionsinseln Rathaus und Marienkirche stärkt und abrundet. St. Marien sollte den Schutzmantel einer umgebenden Bebauung zurückerhalten. Mit der Rückkehr des Neptunbrunnens auf den Schlossplatz würde das Schlossensemble um ein Original vervollständigt und die große Fläche vor dem Rathaus frei für eine Neugestaltung als Rathausplatz und Bürgerforum. Das Rote Rathaus würde mit einem Rathausplatz die Würde und Bedeutung erhalten, die einer großen Stadt wie Berlin gebührt.

Morgen: Teil 18 „Der Fernsehturm und sein Sockel“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (17/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Selbstdarstellung der Kommune

Diktaturen inszenieren ihre Macht in Monumentalbauten, Staatsachsen und Aufmarschplätzen, in organisierten Paraden und Aufzügen. Doch auch die Demokratie braucht symbolische Orte und eigene Formen der Selbstfeier und Selbstbestätigung. Der Literaturwissenschaftler Viktor Klemperer, der als Jude das „Dritte Reich“ in Dresden überlebte, notierte in seinem Tagebuch am 11. August 1934:

“Ich glaube, der 11. August war der >Verfassungstag< der Republik. Dieses >ich glaube< ist charakteristisch; die Feier wurde nie populär, nie mit Schwung und Resonanz durchgeführt. Die Republik war in diesem Punkt allzu protestantisch; sie vertraute allzu sehr auf das Geistige und verachtete das Sinnliche, sie überschätzte das Volk. Bei der gegenwärtigen Regierung ist das Gegenteil der Fall, und sie übertreibt dieses Gegenteil ins Unsinnige.“

Das Gegenteil des Unsinnigen ist nicht der Verzicht, sondern eine sinnvolle, der Demokratie angemessene öffentliche Selbstdarstellung. Aus der Geschichte zu lernen  heißt, die Demokratie populär und sinnlich zu gestalten in Orten, Bauten und Plätzen.

Dies ist nach zwei Jahrzehnten Wiedervereinigung  im Parlaments- und Regierungsviertel, der staatsbürgerlichen Mitte der Bundeshauptstadt, bereits gelungen. Es wird vollendet mit den nationalen Kulturbauten der weltbürgerlichen Mitte im historischen Zentrum und der Erweiterung der Museumsinsel um das Humboldtforum im Berliner Schloss. Die im Bau befindliche U-Bahn-Linie U5 markiert die West-Ost-Wanderung des Wiederaufbaus der Mitte Berlins mit ihren Stationen: Hauptbahnhof, Reichstag, Brandenburger Tor, Unter den Linden, Museumsinsel, Berliner Rathaus.

Der Spatenstich zum Bau der U-Bahnstation Berliner Rathaus, der die Leere vor dem Rathaus für Jahre zur Baustelle machen wird, sollte das Signal sein für den letzten Akt des Wiederaufbaus der Mitte Berlins – die Gestaltung eines Rathausplatzes und Bürgerforums.

Morgen: Teil 18 „Historischer Stadtgrundriss und Traditionsinseln“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (16/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsbewegung

Schon die Siegermächte bauten in der Nachkriegszeit nicht nur aus praktischen Erwägungen die Demokratie von unten auf und sahen in der Kommunalpolitik eine „Schule der Demokratie“. Im Westen Deutschlands folgte nach Aufbau und Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie, des  Rechts- und Sozialstaats und einer sozialen Marktwirtschaft eine Zeit gesellschaftlicher Unruhe und Reformen. „Mehr Demokratie wagen!“ hieß es. Antiautoritäre und außerparlamentarische Bewegungen der „68er“ Kulturrevolution haben die Gesellschaft verändert, in ihrer am Ende ausufernden Gewalt aber auch traumatisiert. Seit den 1970er Jahren stärken Bürgerinitiativen die „Basisdemokratie“ mit der Folge einer Erweiterung und gesetzlichen Verankerung von Beteiligungs- und Anhörungsrechten der Bürger. Die größte Demokratiebewegung aber war die friedliche Revolution im Herbst 1989 in der DDR, die mit der Wiedervereinigung endgültig die Nachkriegszeit beendete. Sie begann mit Bürgerinitiativen und  Bürgerrechtsgruppen und hat für ganz Deutschland ein bleibendes Zeichen gesetzt für Zivilcourage und Bürgermut.

Seit jeher weitet sich der öffentliche Raum um eine ideelle vierte Dimension. Seien es Thesenanschläge und Flugschriften, Bücher und Zeitungen oder Rundfunk und Fernsehen, sie  erzeugen öffentliche Meinung und öffentlichen Druck. Eine neue revolutionäre Dimension aber erlebt der öffentliche Raum heute durch seine globale virtuelle Expansion. Soziale Netzwerke des Internets verändern die Welt im Großen  wie im Kleinen, im individuellen Alltag wie in großen sozialen und politischen Umwälzungen.

Volker Hassemer hat anlässlich der Berliner Stiftungswoche zu „bürgerschaftlichem Engagement als Ergänzung und Korrektiv der Politik“, zu „Teilnahme und Teilhabe“ aufgerufen:

“Eine Stadt wie Berlin braucht eine selbstbewusste Bürgerschaft. Bis 1933 war eine solche Bürgerschaft das Rückgrat und die Energiequelle der Stadt. Die Nationalsozialisten haben diese Basis zerstört und vertrieben.“ „Ergebnis waren in beiden Hälften Berlins ungewöhnlich staatsorientierte gesellschaftliche Wirklichkeiten. Weder im Osten noch im Westen konnte an die bürgerschaftliche Tradition angeknüpft werden.“ “Spätestens jetzt, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, ist die Zeit gekommen, sich strategisch um den Aufbau einer solchen bürgerschaftlichen Gesellschaft zu bemühen.“

Morgen: Teil 17 „Selbstdarstellung der Kommune“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (15/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Selbstverwaltung und Bürgernähe

Alt-Berlin war vom Mittelalter bis zur Neuzeit Mittelpunkt der Bürgerschaft. Mit dem Bau des Roten Rathauses und des Stadthauses und weiterer Verwaltungsgebäude wurde nach der

„jahrhundertealten Geringschätzung“ „Alt-Berlin mehr und mehr zu einem Zentrum und Ort der Selbstdarstellung der Kommune“ (Bodenschatz).

Diese historische Entwicklung gilt es aufzugreifen und in zeitgemäßer Weise fortzusetzen. Berlin als deutsche Hauptstadt wird in ansehnlichen nationalen Staats- und Kulturbauten repräsentiert. Berlin als Kommune, als Bürgerstadt aber fehlt das sichtbare bürgerschaftliche Zentrum, das der Bedeutung und dem Ansehen Berlins als größter deutscher Stadt entspricht.  Es fehlt eine bürgerschaftliche Mitte, die sich  in Plätzen und Bauten als Bürgerforum darstellt, als Ort heutiger bürgernaher Demokratie und lebendiger Bürgergesellschaft.

Die kommunale Selbstverwaltung lebt von Orts- und Bürgernähe wie die ursprüngliche Demokratie der antiken Stadtstaaten in der Agora Athens und dem Forum Romanum. Es ist im physischen Sinne die räumliche Nähe, es ist die sachliche Problemnähe und Ortskenntnis, es ist die Nähe persönlicher Beziehungen und sozialer Milieus und die emotionale Nähe mit der Bereitschaft zu Identifikation, Engagement, Einmischung und Mitwirkung, die die „Politik von unten“ ausmacht.

Morgen: Teil 16 „Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsbewegung“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (14/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Das Spielfeld

Wie aber ist die Leere vor dem Rathaus zu gestalten? Was ist das Spielfeld? Welche Aufgaben soll dieser bedeutende zentrale Raum in der Stadt künftig erfüllen? Kann hier im mittelalterlichen Maßstab die Altstadt wiederauferstehen? Schon das Rote Rathaus wuchs über die mittelalterliche Stadt hinaus. Und erst recht haben der Fernsehturm und die bis zu zwölf Geschosse aufragenden Gebäudescheiben entlang der Karl-Liebknechtstraße und der Rathausstraße das gesamte Areal in einen neuen rechteckigen Raum großstädtischer Dimension verwandelt. Dieser Großraum wird künftig dominiert vom Fernsehturm im Osten als Symbol modernen technischen Fortschrittsglaubens und dem wiedererrichteten Barockschloss im Westen als Ausdruck historisch-weltlicher Hochkultur. In diesem Spannungsfeld stehen sich in einem großen Freiraum Marienkirche und Rathaus gegenüber, St. Marien als Bürgerkirche des Mittelalters, das Rote Rathaus als Wahrzeichen des Großstadtbürgertums der Neuzeit. Diese baulich unverrückbaren Spielfiguren sind die Eckpfeiler jeder Neugestaltung. Zwischen ihnen liegt ein weiträumiger Spielplatz mit Denkmälern und Brunnen – beweglichen Riesenspielzeugen. Eine Neugestaltung muss in der historischen Rückschau die ganze, auch die jüngere Geschichte im Blick haben und eine weiterreichende in die Zukunft gerichtete städtebauliche wie politische Perspektive entwickeln.

Morgen: Teil 15 „Selbstverwaltung und Bürgernähe“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (13/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Planwerk Innenstadt

Der frühere Senatsbaudirektor Hans Stimmann hat das Verdienst, die Debatte um die Zukunft der Leere vor dem Rathaus eröffnet zu haben:

Die Teilung der Stadt mit der Inanspruchnahme des historischen Zentrums für eine Ost-Berliner Identität – den Palast eingeschlossen – hielt auch (…) nach dem Fall der Mauer an. Im Grundsatz gilt diese auf Kontinuität der 40jährigen Trennung angelegte Abwehr der Bezugnahme auf die gemeinsame Geschichte Berlins bis heute. Im Zentrum unserer Stadt geht es aber nach dem Ende der DDR und nach dem Abriss des Palastes nicht mehr um Ost- oder Westbefindlichkeiten, sondern um das schwierige Verhältnis der Stadt mit Rathaus, mittelalterlichen Klöstern, Kirchen, Schulen, Straßen und Plätzen zum künftigen Humboldt-Forum im Schloss.“

Für die südliche Altstadt hat das Planwerk Innenstadt in „kritischer Rekonstruktion“ den städtebaulichen Rahmen für die Rückkehr zum historischen Stadtgrundriss und einen zeitgemäßen Weiterbau abgesteckt. Die Stadtplanung der DDR hatte ohne Verkehrsnot mit dem Ausbau der Grunerstraße zur innerstädtischen Schnellstraße die südliche Altstadt zerschnitten und abgetrennt. Jetzt sollen durch Anlehnung des Straßenzuges an ihren historischen Verlauf die Verbindung zu Rathaus und Nikolaiviertel wiederhergestellt, der mittelalterliche Große Jüdenhof, das Gymnasium zum Grauen Kloster und der Molkenmarkt in Umrissen wieder erkennbar werden und mit Stadthaus und Parochialkirche zu einem in Maßstab und Gestalt stimmigen Stadtviertel zusammenwachsen.

Morgen: Teil 14 „Das Spielfeld“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (12/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Zukunft von gestern

Heute graben Archäologen nach Schlossfundamenten und vor dem Rathaus nach untergründigen Resten der Berliner Altstadt. Sie wecken die Neugier eingesessener und zugewanderter Berliner nach der Entstehungsgeschichte ihrer Stadt.  Ein Erinnern „ab urbe condita“ kann zu einer neuen gesamtstädtischen Identität Berlins und der bunten Vielfalt seiner Bürger beitragen, der Rückblick auf die Geschichte der gemeinsamen Stadt helfen, die Mauer in den Köpfen zu überwinden, Vergangenheit und Zukunft als eine Dimension der Gegenwart zu begreifen.

Mit wachsendem Abstand sollten auch die 40 Jahre DDR wieder in richtige Relation zur 800jährigen Geschichte Berlins gesetzt werden. Das jüngste Experiment am lebendigen Körper der Gesellschaft war eine Lehre und bleibt unvergessener Teil der Biografie Berlins. Es bleibt unübersehbar auch in seinen baulichen Zeugnissen. Der Fernsehturm, heute ein populäres Wahrzeichen und Orientierungszeichen aller Berliner, bietet Ausguck und Überblick über ganz Berlin und seine gebaute Geschichte. Forum – Hotel, Haus des Lehrers und  Kongresszentrum am Alexanderplatz, Kino und Cafe Moskau, Stalin-Allee, historische Rekonstruktionen wie Nikolaiviertel,  Konzerthaus am Gendarmenmarkt  und Staatsoper – sie werden auch künftig, und nicht nur die Reste der Mauer, im Zentrum Berlins an Geschichte und Baugeschichte der DDR erinnern. Das Staatsratsgebäude gehört mit seinem Schlossportal als geschütztes Baudenkmal längst zum festen Mobiliar der historischen Mitte.

Die Staatsachse der DDR aber zielt seit dem Verschwinden des Palastes der Republik ins Leere. Zwischen Spree und Fernsehturm bietet sich das Bild von Resten einer anderen, untergegangenen Zivilisation, einer Zukunft von gestern.

Morgen: Teil 13 „Planwerk Innenstadt“

Eine Mitte der Bürgerschaft (11/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Absolutismus und „real existierender Sozialismus“

Dem Jahrhundert zentralistischer Machtentfaltung des barocken Absolutismus nach Bauernkriegen, Religionskriegen und Dreißigjährigem Krieg verdankt Europa eine Blütezeit seiner Entwicklung und die Grundlagen des modernen Staatswesens. Der Absolutismus stabilisierte zwar die feudale Macht, durch das Zurückdrängen streitender Gewalten des Adels, der Stände, der Kirche und freier Städte schuf er jedoch Territorial- und Nationalstaaten mit effizienter Verwaltung und gesetzlicher Rechtsprechung, förderte Medizin und Wissenschaft, organisierte und kontrollierte die Wirtschaft und ersetzte die Söldnerheere durch diszipliniertes Militär mit stehendem Heer. Die Zentralisierung der Macht in Hofstaaten ging einher mit einer bis heute fortwirkenden europäischen Hochkultur in Städtebau, Architektur, Gartenkunst, bildender Kunst, Musik, Oper, Theater, Dichtkunst und Kochkunst. Auf den Errungenschaften jener Zeit konnte, nachdem in der französischen Revolution mit den Köpfen auch die Perücken und Zöpfe gefallen waren, die moderne bürgerliche Gesellschaft aufbauen.

Reaktionär  war im Gegenteil – nach zwei Jahrhunderten bürgerlich-demokratischer und freier, sozialer marktwirtschaftlicher Entwicklung – die Re-Feudalisierung der Gesellschaft durch den Totalitarismus des letzten Jahrhunderts. Die Dialektik der Geschichte kennt auch die Rückwärtsspirale.

So waren die Partei- und Staatsfunktionäre der DDR Vasallen und ihr Staat ein Lehen des Kreml-Imperiums. Im Inneren verwandelte die Verstaatlichung und Kollektivierung von Produktionsmitteln und Grund und Boden die Bürger in Leibeigene des Staates, in Staatseigene. Bürger wurden erneut zu Untertanen. Die Bürgerrechte, historisch aus dem mittelalterlichen Stadtrecht hervorgegangen und über Jahrhunderte erkämpft, werden ihnen genommen – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, freie Berufswahl, Widerstandsrecht, freies, gleiches und geheimes Wahlrecht.

Der staatseigene Untertan hat feudale Gefolgschaft zu leisten, sich dem Führer- und Personenkult der Partei- und Staatshierarchie zu unterwerfen. Unbotsame Untertanen müssen mit Verbannung durch Ausbürgerung rechnen. Nicht einmal den Verkauf von Landeskindern scheuen die Landesherren, für Devisen verkaufen sie die wachsende Zahl ihrer politischen Gefangenen.

Morgen: Teil 12 „Zukunft von gestern“

 

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (10/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Streit ums Schloss

Heute, zwei Jahrzehnte nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung ist die Hochhausscheibe des DDR-Außenministeriums verschwunden und bereits vergessen. Sie wurde in den Neunzigern abgetragen. An ihrer Stelle künden Kulissen vom Wiederaufbau der Bauakademie. Im Lustgarten – er macht seinem Namen wieder Ehre – tummelt sich heiter Volk aus aller Welt. Der Palast und seine Republik sind nicht mehr. Langen Streit gab es um Abriss oder Erhalt der Asbest-Ruine. Hätte man den Palast einfach abschrauben können und als „Erichs Lampenladen“ ins Einkaufszentrum am Alexanderplatz versetzt, stünde er noch – am passenden Ort.

Günter de Bruyn sieht eine Ursache des Streits um den Wiederaufbau der historischen Mitte in dem

in Berlin besonders ausgeprägten Mangel an Ehrfurcht vor dem historisch Überkommenen, wie heutzutage auch der hartnäckige, glücklicherweise aber erfolglose Widerstand gegen die aus städtebaulichen und historischen Gründen notwendige Wiedererrichtung des Schlosses zeigt. Vielleicht ist das auf den immer hohen Anteil von Neuberlinern, besonders auch unter den Regierenden, zurückzuführen, mehr aber wohl auf einen allgemeinen Mangel an historischem Empfinden, der, da alle Kultur auf Geschichte gründet, auch ein Zeichen von Kulturlosigkeit ist.“

Das Hohenzollern-Schloss wurde 1950 als angeblich reaktionäres Symbol des preußischen Absolutismus zerstört. Die Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses wird weiterhin bestimmt von einer ideologischen oder antiautoritären Geschichtsbetrachtung seiner Gegner, von einer seltsamen Geringschätzung eines architektonischen Meisterwerks des barocken Absolutismus und einer seltsamen Zuneigung für die banale Palast-Architektur einer spießbürgerlich-proletarischen Diktatur.

Morgen: Teil 11 „Absolutismus und real-existierender Sozialismus“