Moderatorin Ursula Flecken greift zum Mikro, um es sogleich wieder aus der Hand zu geben. Ohne das vorher gewusst zu haben. Als die Stadtplanerin das Publikum zum Bürgergespräch über die Zukunft des Tempelhofer Feldes begrüßt, ziehen Bürgerinitiativen aus Kreuzberg, Neukölln und Tempelhof mit Bannern vor der Brust vor den Altar der Passionskirche am Marheinekeplatz. Dass man in die Kieze hineingehen wolle, teilt sie mit. Dann kann das Publikum auf den Transparenten lesen: “Kiez wehrt sich” und “Wir wollen keine Spielwiese, wir wollen die Freiheit, wie sie ist!”
Die Bürger fordern das Wort. Ursula Flecken lenkt ein. “Ich gebe das Mikrofon für fünf Minuten aus der Hand”, sagt sie. Doch es wurden mehr als dreißig. Erst liest eine Frau vom “Mieterrat Chamissoplatz” aus einer vorbereiteten Erklärung. Dann fordert ein Mann von “100% Tempelhofer Feld” die Sicherung des gesamten Tempelhofer Feldes als Freiraum und einen direkten Dialog mit der Politik, gefolgt von einem jungen Aktivisten aus Neukölln, dessen Initiative noch in der Gründung sei und noch keinen Namen hätte, wie er sagt. “Es ist eine soziale Frage”, sind seine letzten Worte, als noch schnell eine Piratin nach vorn springt und ihre Unterstützung für “100% Tempelhofer Feld” kund tut. Wer an diesem Donnerstagabend moderieren will, hat ein dickes Brett zu bohren.
So, jetzt sei alles raus, möchte man meinen. Als wäre dieser Fehlstart nicht schwierig genug, bekommt Ursula Flecken auch noch einen nicht bestellten Co-Moderator an die Seite gestellt. Ein Anwohner mit stadtplanerischem Hintergrund erklärt sich selbst dazu und will sie durch die Abend-Veranstaltung begleiten. Er stellt erstmal das Programm um und schlägt eine große Fragestunde vor.
Gegen 18:45 Uhr kommt endlich Ursula Flecken wieder zu Wort. Sie erklärt sich solidarisch und findet den Programmvorschlag und die eigene Themensetzung der Bürger erstmal gut. Gerne würde sie aber erläutern, welches Programm sie und der Veranstalter, die Tempelhof Projekt GmbH, sich für heute Abend ausgedacht haben. “Wir wollen informieren”, stellt sie klar. Über den aktuellen Stand der Planung, auch wären Arbeitsgruppen vorgesehen. – Aber das Publikum lässt sie nicht. Ein Mann ruft dazwischen: “Wir wollen nicht, dass in der Zeitung steht, man hätte die Bürger informiert!” Die Zwischenrufe reißen nicht ab. Es war weiß Gott nicht der erste. Apropos: “Das Wort Gottes hören”, steht an der märchenhaften Backsteinkanzel. Im Rücken von Flecken.
Doch aus der Fragestunde wird nichts. Die Moderatorin erkennt, dass es im Publikum durchaus Interesse daran gibt, was die Veranstalter zu berichten haben. Auf Nachfrage melden sich eine Hand voll Leute. Und als Ursula Flecken die Rebellen geschickt fragt, ob sie es den Neutralinteressierten wirklich verwehren möchten, zu ihrem Recht auf allgemeine Information zu kommen, da können die Lautstarken, so wütend sie auch sind, dann doch nicht anders und stimmen der Quickinfo zu.
Zuvor war schon der Versuch gescheitert, den Landschaftsarchitekten der geplanten Parklandschaft seine Ideen erläutern zu lassen und der Diskussion eine Grundlage zu geben. Der Co-Moderator schritt ein, forderte im Auftrag der Initiativen die Fragerunde ein. Der Architekt von GROSS.MAX. aus Edinburgh kam nicht zu Wort.
Ursula Flecken gibt das Wort also an Martin Pallgen von der Tempelhof Projekt GmbH. Nur kurz. Vorm Altar kommen jetzt Beamer und Leinwand zum Einsatz. Gäste aus dem Publikum hatten schon vor Beginn der Veranstaltung über Pallgens Outfit gelästert: Glänzende Anzüge stünden keinem Mann, urteilten sie auf der Kirchenbank. Pallgen versucht jetzt das Unmögliche: für eine Minderheit das Notwendigste in halber Zeit zu berichten und gleichzeitig die Protestler im Publikum durch vage gehaltene Informationen nicht gegen sich aufzubringen. Er schlägt sich gut. Aber die Fragen und Einwände, die das Publikum Martin Palgen immer wieder entgegenruft, entgegenschreit, lassen den Vortrag nicht allzu lang werden. Es scheint, als lehne die Menge prinzipiell das Format ab. Anzugträger, Powerpoint und die immer willkürlich erscheinende Geometrie der Pläne, mit denen “die da oben” den Berliner Boden abstecken. – “Das Wort Gottes hören”? – Die Bürger wollen selber sprechen. Fordern das jetzt. Ursula Flecken leitet über zur Fragerunde.
Kurz nach 19 Uhr hat sich am Saalmikro eine lange Schlange gebildet. Etwa zehn bis fünfzehn Wortbeiträge gehen in der nächsten knappen Stunde durch das Mikrofon. Die meisten fragen nicht, sie stellen fest. Empören sich. Ein Mann regt sich über die Grün Berlin GmbH auf, weil die Gesellschaft seiner Meinung nach an zu vielen Projekten in Berlin beteiligt ist. “Welches Recht hat Grün Berlin …?”, schimpft er. Die Antwort bekommt er vom Geschäftsführer. “Wir haben einen Auftrag vom Land Berlin, das kann man ganz nüchtern sagen”, so Christoph Schmidt, dem ein Lächeln über die Mundwinkel läuft. Die Pläne wären zum jetzigen Zeitpunkt noch aufhaltbar, mahnt ein anderer Sprecher. Und dann wieder Zwischenrufe. Viele ersparen sich ein Anstehen in der Rednerschlange, posaunen ihre Anliegen quer durch die Kirche. Heute gibt es viel Leidenschaft in der Kreuzberger Passionskirche. “Gänseblümchen sammeln und Brennnessel, mit den Kindern, das ist Bildung!”, ruft ein Vater, der sich auf das von Martin Pallgen erwähnte Bildungsquartier am Tempelhofer Damm bezieht.
Einer der Schreier kommt aus den Bänken hervor und greift zum Mikrofonständer. Ohne sich hinten anzustellen. Es sieht zuerst wie Sabotage aus. Dann erkennt man, dass der Mann das Mikro um 180 Grad drehen will, damit das Publikum die Bürgersprecher besser sehen kann. Die Moderatorin lässt ihn gewähren. Damit ist der Kirchenraum endgültig zur Verlautbarungsbühne der besorgten Initiativen geworden. Die Manager- und Moderatorenriege des Senats ist in die zweite Reihe gerückt.
Ein Berliner Ire, der für das Quartiersmanagement Schillerpromenade arbeitet, beklagt, die Tempelhof Projekt GmbH hätte mehrere seiner Projekte zur Weiterentwicklung des Tempelhofer Feldes als unausgegoren abgelehnt. Ein anderer bezweifelt den grundsätzlichen Ansatz der Parklandschaft: “Landschaft braucht nicht geplant werden, die Landschaft ist schon da!” Der junge Initiativengründer aus Neukölln kontert einen Redebeitrag einer Sachbearbeiterin aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung damit, dass Protest marginalisiert würde, und dass das eine große Frechheit sei; seine Vorrednerin hatte die Bürgerbeteiligung erläutert, die sie seit 2007 begleitet hat.
Wenn das Kriterium für ein erfolgreiches Bürgergespräch der Fakt ist, dass Bürger sprechen, dann war die Veranstaltung gelungen, bevor sie zu Ende war. Nach zwei Stunden Kirchenbank sind um 20 Uhr längst nicht alle Messen gesungen. Ursula Flecken und ihr Co-Moderator, der nicht von ihrer Seite wich, drängen jetzt in die Arbeitsgruppen. Der Forderung des Publikums nach eigener Themensetzung wird entsprochen. Aber müde nur rufen die von der Gemeinschaftsmoderation aufgeforderten Bürger nach ihrem Protesteifer die Stichworte aus, mit denen die AG’s betitelt werden sollen. Es stockt. Die Luft ist raus.
Aber es ist auch dem Wechsel der Spielart geschuldet. Der Bürger soll jetzt wieder was. Er soll denken. Er soll diskutieren. Er soll sogar selbst moderieren, alles in den AG’s. Die Passionskirche verwandelt sich in eine Schulbank. Und in jeder Ecke stehen Stühle und Flipcharts bereit, liegen Stifte zum Malen. Zögerlich füllen sich die AG’s. Einer ruft: “Wir brauchen hier noch einen Moderator.” Viele stehen an der Bar. Hier gibt es Brezel und Saft, gesponsert vom Veranstalter. Serviert von Kirchenleuten. Verlässt man zu diesem Zeitpunkt den Ort, kann man draußen vor dem Eingang manchen stehen und frische Luft schnappen sehen. Zum Beispiel den Mann, der mit der Politik sprechen will.