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Eine Mitte der Bürgerschaft (15/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Selbstverwaltung und Bürgernähe

Alt-Berlin war vom Mittelalter bis zur Neuzeit Mittelpunkt der Bürgerschaft. Mit dem Bau des Roten Rathauses und des Stadthauses und weiterer Verwaltungsgebäude wurde nach der

„jahrhundertealten Geringschätzung“ „Alt-Berlin mehr und mehr zu einem Zentrum und Ort der Selbstdarstellung der Kommune“ (Bodenschatz).

Diese historische Entwicklung gilt es aufzugreifen und in zeitgemäßer Weise fortzusetzen. Berlin als deutsche Hauptstadt wird in ansehnlichen nationalen Staats- und Kulturbauten repräsentiert. Berlin als Kommune, als Bürgerstadt aber fehlt das sichtbare bürgerschaftliche Zentrum, das der Bedeutung und dem Ansehen Berlins als größter deutscher Stadt entspricht.  Es fehlt eine bürgerschaftliche Mitte, die sich  in Plätzen und Bauten als Bürgerforum darstellt, als Ort heutiger bürgernaher Demokratie und lebendiger Bürgergesellschaft.

Die kommunale Selbstverwaltung lebt von Orts- und Bürgernähe wie die ursprüngliche Demokratie der antiken Stadtstaaten in der Agora Athens und dem Forum Romanum. Es ist im physischen Sinne die räumliche Nähe, es ist die sachliche Problemnähe und Ortskenntnis, es ist die Nähe persönlicher Beziehungen und sozialer Milieus und die emotionale Nähe mit der Bereitschaft zu Identifikation, Engagement, Einmischung und Mitwirkung, die die „Politik von unten“ ausmacht.

Morgen: Teil 16 „Bürgerinitiativen und Bürgerrechtsbewegung“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (14/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Das Spielfeld

Wie aber ist die Leere vor dem Rathaus zu gestalten? Was ist das Spielfeld? Welche Aufgaben soll dieser bedeutende zentrale Raum in der Stadt künftig erfüllen? Kann hier im mittelalterlichen Maßstab die Altstadt wiederauferstehen? Schon das Rote Rathaus wuchs über die mittelalterliche Stadt hinaus. Und erst recht haben der Fernsehturm und die bis zu zwölf Geschosse aufragenden Gebäudescheiben entlang der Karl-Liebknechtstraße und der Rathausstraße das gesamte Areal in einen neuen rechteckigen Raum großstädtischer Dimension verwandelt. Dieser Großraum wird künftig dominiert vom Fernsehturm im Osten als Symbol modernen technischen Fortschrittsglaubens und dem wiedererrichteten Barockschloss im Westen als Ausdruck historisch-weltlicher Hochkultur. In diesem Spannungsfeld stehen sich in einem großen Freiraum Marienkirche und Rathaus gegenüber, St. Marien als Bürgerkirche des Mittelalters, das Rote Rathaus als Wahrzeichen des Großstadtbürgertums der Neuzeit. Diese baulich unverrückbaren Spielfiguren sind die Eckpfeiler jeder Neugestaltung. Zwischen ihnen liegt ein weiträumiger Spielplatz mit Denkmälern und Brunnen – beweglichen Riesenspielzeugen. Eine Neugestaltung muss in der historischen Rückschau die ganze, auch die jüngere Geschichte im Blick haben und eine weiterreichende in die Zukunft gerichtete städtebauliche wie politische Perspektive entwickeln.

Morgen: Teil 15 „Selbstverwaltung und Bürgernähe“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (13/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Planwerk Innenstadt

Der frühere Senatsbaudirektor Hans Stimmann hat das Verdienst, die Debatte um die Zukunft der Leere vor dem Rathaus eröffnet zu haben:

Die Teilung der Stadt mit der Inanspruchnahme des historischen Zentrums für eine Ost-Berliner Identität – den Palast eingeschlossen – hielt auch (…) nach dem Fall der Mauer an. Im Grundsatz gilt diese auf Kontinuität der 40jährigen Trennung angelegte Abwehr der Bezugnahme auf die gemeinsame Geschichte Berlins bis heute. Im Zentrum unserer Stadt geht es aber nach dem Ende der DDR und nach dem Abriss des Palastes nicht mehr um Ost- oder Westbefindlichkeiten, sondern um das schwierige Verhältnis der Stadt mit Rathaus, mittelalterlichen Klöstern, Kirchen, Schulen, Straßen und Plätzen zum künftigen Humboldt-Forum im Schloss.“

Für die südliche Altstadt hat das Planwerk Innenstadt in „kritischer Rekonstruktion“ den städtebaulichen Rahmen für die Rückkehr zum historischen Stadtgrundriss und einen zeitgemäßen Weiterbau abgesteckt. Die Stadtplanung der DDR hatte ohne Verkehrsnot mit dem Ausbau der Grunerstraße zur innerstädtischen Schnellstraße die südliche Altstadt zerschnitten und abgetrennt. Jetzt sollen durch Anlehnung des Straßenzuges an ihren historischen Verlauf die Verbindung zu Rathaus und Nikolaiviertel wiederhergestellt, der mittelalterliche Große Jüdenhof, das Gymnasium zum Grauen Kloster und der Molkenmarkt in Umrissen wieder erkennbar werden und mit Stadthaus und Parochialkirche zu einem in Maßstab und Gestalt stimmigen Stadtviertel zusammenwachsen.

Morgen: Teil 14 „Das Spielfeld“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (12/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Zukunft von gestern

Heute graben Archäologen nach Schlossfundamenten und vor dem Rathaus nach untergründigen Resten der Berliner Altstadt. Sie wecken die Neugier eingesessener und zugewanderter Berliner nach der Entstehungsgeschichte ihrer Stadt.  Ein Erinnern „ab urbe condita“ kann zu einer neuen gesamtstädtischen Identität Berlins und der bunten Vielfalt seiner Bürger beitragen, der Rückblick auf die Geschichte der gemeinsamen Stadt helfen, die Mauer in den Köpfen zu überwinden, Vergangenheit und Zukunft als eine Dimension der Gegenwart zu begreifen.

Mit wachsendem Abstand sollten auch die 40 Jahre DDR wieder in richtige Relation zur 800jährigen Geschichte Berlins gesetzt werden. Das jüngste Experiment am lebendigen Körper der Gesellschaft war eine Lehre und bleibt unvergessener Teil der Biografie Berlins. Es bleibt unübersehbar auch in seinen baulichen Zeugnissen. Der Fernsehturm, heute ein populäres Wahrzeichen und Orientierungszeichen aller Berliner, bietet Ausguck und Überblick über ganz Berlin und seine gebaute Geschichte. Forum – Hotel, Haus des Lehrers und  Kongresszentrum am Alexanderplatz, Kino und Cafe Moskau, Stalin-Allee, historische Rekonstruktionen wie Nikolaiviertel,  Konzerthaus am Gendarmenmarkt  und Staatsoper – sie werden auch künftig, und nicht nur die Reste der Mauer, im Zentrum Berlins an Geschichte und Baugeschichte der DDR erinnern. Das Staatsratsgebäude gehört mit seinem Schlossportal als geschütztes Baudenkmal längst zum festen Mobiliar der historischen Mitte.

Die Staatsachse der DDR aber zielt seit dem Verschwinden des Palastes der Republik ins Leere. Zwischen Spree und Fernsehturm bietet sich das Bild von Resten einer anderen, untergegangenen Zivilisation, einer Zukunft von gestern.

Morgen: Teil 13 „Planwerk Innenstadt“

Eine Mitte der Bürgerschaft (11/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Absolutismus und „real existierender Sozialismus“

Dem Jahrhundert zentralistischer Machtentfaltung des barocken Absolutismus nach Bauernkriegen, Religionskriegen und Dreißigjährigem Krieg verdankt Europa eine Blütezeit seiner Entwicklung und die Grundlagen des modernen Staatswesens. Der Absolutismus stabilisierte zwar die feudale Macht, durch das Zurückdrängen streitender Gewalten des Adels, der Stände, der Kirche und freier Städte schuf er jedoch Territorial- und Nationalstaaten mit effizienter Verwaltung und gesetzlicher Rechtsprechung, förderte Medizin und Wissenschaft, organisierte und kontrollierte die Wirtschaft und ersetzte die Söldnerheere durch diszipliniertes Militär mit stehendem Heer. Die Zentralisierung der Macht in Hofstaaten ging einher mit einer bis heute fortwirkenden europäischen Hochkultur in Städtebau, Architektur, Gartenkunst, bildender Kunst, Musik, Oper, Theater, Dichtkunst und Kochkunst. Auf den Errungenschaften jener Zeit konnte, nachdem in der französischen Revolution mit den Köpfen auch die Perücken und Zöpfe gefallen waren, die moderne bürgerliche Gesellschaft aufbauen.

Reaktionär  war im Gegenteil – nach zwei Jahrhunderten bürgerlich-demokratischer und freier, sozialer marktwirtschaftlicher Entwicklung – die Re-Feudalisierung der Gesellschaft durch den Totalitarismus des letzten Jahrhunderts. Die Dialektik der Geschichte kennt auch die Rückwärtsspirale.

So waren die Partei- und Staatsfunktionäre der DDR Vasallen und ihr Staat ein Lehen des Kreml-Imperiums. Im Inneren verwandelte die Verstaatlichung und Kollektivierung von Produktionsmitteln und Grund und Boden die Bürger in Leibeigene des Staates, in Staatseigene. Bürger wurden erneut zu Untertanen. Die Bürgerrechte, historisch aus dem mittelalterlichen Stadtrecht hervorgegangen und über Jahrhunderte erkämpft, werden ihnen genommen – Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, Freizügigkeit, freie Berufswahl, Widerstandsrecht, freies, gleiches und geheimes Wahlrecht.

Der staatseigene Untertan hat feudale Gefolgschaft zu leisten, sich dem Führer- und Personenkult der Partei- und Staatshierarchie zu unterwerfen. Unbotsame Untertanen müssen mit Verbannung durch Ausbürgerung rechnen. Nicht einmal den Verkauf von Landeskindern scheuen die Landesherren, für Devisen verkaufen sie die wachsende Zahl ihrer politischen Gefangenen.

Morgen: Teil 12 „Zukunft von gestern“

 

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (10/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Streit ums Schloss

Heute, zwei Jahrzehnte nach friedlicher Revolution und Wiedervereinigung ist die Hochhausscheibe des DDR-Außenministeriums verschwunden und bereits vergessen. Sie wurde in den Neunzigern abgetragen. An ihrer Stelle künden Kulissen vom Wiederaufbau der Bauakademie. Im Lustgarten – er macht seinem Namen wieder Ehre – tummelt sich heiter Volk aus aller Welt. Der Palast und seine Republik sind nicht mehr. Langen Streit gab es um Abriss oder Erhalt der Asbest-Ruine. Hätte man den Palast einfach abschrauben können und als „Erichs Lampenladen“ ins Einkaufszentrum am Alexanderplatz versetzt, stünde er noch – am passenden Ort.

Günter de Bruyn sieht eine Ursache des Streits um den Wiederaufbau der historischen Mitte in dem

in Berlin besonders ausgeprägten Mangel an Ehrfurcht vor dem historisch Überkommenen, wie heutzutage auch der hartnäckige, glücklicherweise aber erfolglose Widerstand gegen die aus städtebaulichen und historischen Gründen notwendige Wiedererrichtung des Schlosses zeigt. Vielleicht ist das auf den immer hohen Anteil von Neuberlinern, besonders auch unter den Regierenden, zurückzuführen, mehr aber wohl auf einen allgemeinen Mangel an historischem Empfinden, der, da alle Kultur auf Geschichte gründet, auch ein Zeichen von Kulturlosigkeit ist.“

Das Hohenzollern-Schloss wurde 1950 als angeblich reaktionäres Symbol des preußischen Absolutismus zerstört. Die Diskussion um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses wird weiterhin bestimmt von einer ideologischen oder antiautoritären Geschichtsbetrachtung seiner Gegner, von einer seltsamen Geringschätzung eines architektonischen Meisterwerks des barocken Absolutismus und einer seltsamen Zuneigung für die banale Palast-Architektur einer spießbürgerlich-proletarischen Diktatur.

Morgen: Teil 11 „Absolutismus und real-existierender Sozialismus“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (9/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

„Sozialistische Siegessäule“ und Palast

In den 1960er und 70er Jahren wird diese gewaltsam in die historische Stadt geschlagene Schneise zur monumentalen Ost-West-Achse ausgebaut, zur neuen repräsentativen Staatsachse der DDR. Sie reicht vom Alexanderplatz im Osten, wo der Fernsehturm als Siegessäule sozialistischen Fortschritts errichtet wird, bis zur Hochhausscheibe des DDR-Außenministeriums im Westen. Zum neuen Mittelpunkt wird – verquer zur historischen Stadtkomposition – der „Palast der Republik“. Eine „sozialistische Mehrzweckhalle am falschen Ort im falschen Winkel“  hat Wolf Jobst Siedler ihn genannt. An die Stelle des echten Barockschlosses tritt ein falscher Palast. Geschichte wiederholt sich als Farce.

Die kalte Pracht des Palastes der Republik ist der Stolz der neuen herrschenden Klasse – braun verglast, verhängt wie die Staatskarosse eines Parteifunktionärs, in der Fassadenmitte das Staatswappen der DDR wie am Revers der Reichsbank das Parteiabzeichen der SED. Wappen, Abzeichen und Orden – heute auf Trödelmärkten angeboten – sie liebt und sammelt der neue Funktionärsadel. Die „Volkskammer“ im Inneren des falschen Palastes ist ein einstimmiges Parlament – es hat nicht zu parlieren, nichts zu sagen. Als  „Volkshaus“ bietet der Palast ein „Kessel Buntes“, harmloses Amüsement unter den Augen von Partei und Staat.

Morgen: Teil 10 „Streit ums Schloss“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (8/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

„Demokratischer Zentralismus“ 

Berlin wird geteilt. Was von der historischen Mitte und der Altstadt Berlins übrig ist, liegt im sowjetisch besetzten Ostteil der Stadt. In der sowjetischen Besatzungszone  gilt zunächst  mit der „Demokratischen Gemeindeordnung“ von 1946 ein demokratisches Selbstverwaltungsrecht. Die anfangs in der SBZ und der 1949 gegründeten DDR verbreiteten Hoffnungen auf einen demokratischen und sozialen Neubeginn werden bald enttäuscht. Schon in den frühen 1950er Jahren werden Städte und Gemeinden dem Prinzip der Parteidoktrin des  „demokratischen Zentralismus“ unterworfen und zur unteren Verwaltungsebene des zentralistischen Einheitsstaats DDR degradiert und durchgängiger Kontrolle der Einheitspartei SED unterworfen. An die Stelle der Demokratie tritt die „Volksdemokratie“, die „Deutsche Demokratische Republik“ mit dem Scheinparlament der „Volkskammer“, bewacht durch „Volksarmee“ und „Volkspolizei“. Aus Ost-Berlin wird „Berlin, Hauptstadt der DDR“.

Um ihre von der Sowjetunion geliehene Macht den Anschein historischer Legitimität zu geben und ihre Deutungshoheit über Geschichte, Gegenwart und Zukunft zu demonstrieren, besetzt die DDR die historische Mitte der Stadt. Andreas Schlüters Barockschloss wird gesprengt und Karl Friedrich Schinkels Bauakademie beseitigt. 500 Jahre Stadtgeschichte und nationale Baugeschichte werden zunichte gemacht und geleugnet.

In Stefan Heyms Schlüsselroman „Die Architekten“ schwärmt der Staatsarchitekt vom neuen Stadtzentrum Berlins, von der

„Vista auf die große Plaza für Aufmärsche und Demonstrationen als sichtbarem Beweis für die Macht des Volkes, und auf den zentralen Hochhausturm, in dem die Büros von Partei- und Bezirksleitung sich befinden werden.“

Tatsächlich soll ein alles überragendes stalinistisches  Hochhaus als Dominante Berlin beherrschen. Am Ende aber bleiben von den hochfliegenden Plänen nur eine Tribüne und ein gigantischer Aufmarschplatz für 275 000 Menschen. Der Aufmarsch- und Paradeplatz umfasst den im „Dritten Reich“ zu gleichen Zwecken gepflasterten Lustgarten und reicht vom Alten Museum im Norden bis zum Staatsratsgebäude im Süden. Das Staatsratsgebäude dient der äußeren Repräsentation des künstlichen Staatsgebildes, die reale Macht aber, das Zentralkomitee der Einheitspartei SED, verschanzt sich nebenan in der steinernen  Reichsbank. Zur Sicherheit wird die Umgebung von verbliebener Bebauung geräumt.

Nach dem Hohenzollern-Schloss verschwindet ein Jahrzehnt später auch das Gegenüber jenseits der Spree, die Reste der historischen Altstadt mit ihren Handwerker- und Bürgerhäusern, und ihrem Gewirr von Straßen, Plätzen und Gassen. An die Stelle historischer Nachbarschaft von Bürgerstadt, Kirche und Schloss tritt, vom neuen Marx-Engels-Platz bis zum Alexanderplatz, gähnende Leere.

Morgen: Teil 9 „Sozialistische Siegessäule und Palast“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (7/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Gleichschaltung und „Volksgemeinschaft“

Hatte in der Folge der sozialen und demokratischen Revolution von 1918 die Weimarer Republik  auch die bürgerschaftliche Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden gestärkt und durch die Weimarer Reichsverfassung garantiert, wird 1935 mit der Gleichschaltung im nationalsozialistischen Einheitsstaat, dem „Führerprinzip“ und dem  „Einklang der Gemeindeverwaltung mit der Partei“ auch die kommunale Selbstverwaltung abgeschafft. Die Macht des Bürgermeisters leitet sich vom „Führer“ ab. An die Stelle eines durch Recht und Gesetz und die Teilung der Gewalten kontrollierten Ausgleichs gesellschaftlicher Interessen treten Willkür, Zwang, Gewalt, Raub und Mord. Die bunte, vielfältige, widersprüchliche, individualistische und pluralistische Massengesellschaft wird gleichgeschaltet zur „Volksgemeinschaft“. Das „Volk“ wird, je weniger das Volk zu sagen hat, in Wort-Kompositionen inflationär: Volksgerichtshof, Volkssturm, Volksempfänger, Volkswagen –  der Propagandaminister leitet ein Ministerium für Volksaufklärung. Architektur und Städtebau werden zu Kulissen pseudodemokratischer Choreografie zur Inszenierung jubelnder Massen unter Fahnenmeeren. In der Reichshauptstadt gipfelt dies in den Plänen zur Errichtung der „Welthauptstadt Germania“, für deren megalomane Nord-Süd-Achse bereits Tausende Berliner Wohnungen dem Abriss geopfert werden, bevor der Weltkrieg sein Vernichtungswerk beginnt und schließlich Berlin in Schutt und Asche legt.

Morgen: Teil 8 „Demokratischer Zentralismus“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (6/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Demokratie ohne Autorität

Das Ende des Ersten Weltkriegs und des Kaiserreichs verschärft mit der plötzlichen Umwälzung aller Verhältnisse und der Nachkriegsnot die gesellschaftlichen Spannungen und Gegensätze. Die Demokratie, im 19. Jahrhundert zunächst durch ein freiheitlich gesinntes Bürgertum geprägt, ist durch eine sich ausbreitende Arbeiter- und Volksbewegung zur modernen Massendemokratie herangewachsen mit Pressefreiheit, freien, gleichen und geheimen Wahlen, Gemeindevertretungen und Parlamenten, Parteien und Gewerkschaften, Streiks, öffentlichen Versammlungen, Aufzügen und Kundgebungen. Jetzt wird nicht nur dem vierten Stand, den Arbeitern, sondern seit 1918 auch dem „fünften Stand“, den Frauen, durch das Frauenwahlrecht Mitwirkung und Mitbestimmung eröffnet. Dem Volk und seiner neuen Freiheit aber stehen fremd bis feindselig beharrende und überforderte Kräfte gegenüber und mit ihnen die durch Obrigkeitsdenken geprägten staatlichen Machtorgane – Verwaltung, Justiz, Polizei und Militär. Die Demokratie ist ohne Autorität. Die Auseinandersetzung um die Lösung gesellschaftlicher Konflikte verlagert sich aus gewählten Volksvertretungen auf die Straße. Radikale sozial- und nationalrevolutionäre Kräfte nutzen die Versammlungs- und Vereinigungs-freiheit, um die ungefestigte parlamentarische Demokratie durch uniformierte Aufmärsche und Straßenkämpfe zu erschüttern. Sie schüren Rassen- und Klassenhass und versprechen mit der Vernichtung innerer und äußerer Feinde nationales Heil und soziale Harmonie. Die junge Demokratie ist ihr erklärter Feind und das Opfer kommender Gewaltherrschaft.

Morgen: Teil 7 „Gleichschaltung und Volksgemeinschaft“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (5/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Berlin wird Weltstadt – das Stadthaus

Mit dem historischen Jahr 1871 erlebt die Reichshauptstadt einen weiteren, noch gewaltigeren Entwicklungsschub. Die Gründerzeit verwandelt die Großstadt in eine Weltstadt. Schließlich vereint Groß-Berlin in seinen neuen Grenzen fast 4 Millionen Menschen.

Mit dem raschen Wandel der Arbeitsteilung und der Trennung der Funktionen in der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft entwickeln sich neue gesellschaftliche Schichten und Klassen und mit ihnen Arbeiterviertel, bürgerliche Wohn- und Villenviertel, Mischgebiete, Industrie- und Gewerbegebiete, Erholungs- und Sport-, Versorgungs- und Verkehrsanlagen.

Die Stadtmitte teilt sich in vielfältige Stadtzentren, in Mittelpunkte politischer und kultureller Repräsentation und Administration ebenso wie in Einkaufs- und  Dienstleistungszentren, Versorgungs- und Bildungszentren, Unterhaltungs- und Vergnügungszentren sowie Stadtteilzentren aller Art.

Schon um 1900 reicht das Rote Rathaus nicht mehr zur Verwaltung dieser dramatisch wachsenden Stadt, so dass von 1902 bis 1911 am benachbarten Molkenmarkt ein „Zweites Rathaus“ errichtet wird – noch größer der Bau und noch höher der Turm: das monumentale „Stadthaus“ mit fünf Innenhöfen und einem „Bärensaal“ für öffentliche Feiern der Bürgerschaft.

Morgen: Teil 6 „Demokratie ohne Autorität“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (4/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Berlin wird Großstadt – das Rote Rathaus

Unter dem Einfluss der Aufklärung und der französischen Revolution regen sich die Anfänge modernen bürgerlichen Lebens, entwickelt sich aus dem Hofstaat und seinem Umfeld, aus Beamten und Offizieren, Gelehrten und Pädagogen, Wissenschaftlern und Medizinern, Theologen und Philosophen, Musikern und Literaten ein der Welt aufgeschlossenes Bildungsbürgertum. Es wohnt und lebt vorwiegend in den westlichen Stadterweiterungen, in Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt, aber auch in der Altstadt. Mit den Befreiungskriegen, ersten Volksbewegungen und den preußischen Reformen wachsen Selbstbewusstsein und unternehmerischer Spielraum des Bürgertums. Mit der Abschaffung der Leibeigenschaft, mit  Freizügigkeit  und Landflucht bilden sich Arbeits- und Warenmarkt und unternehmerisches Eigentum. Städten und Gemeinden werden unter staatlichem Dach Selbstverwaltung eingeräumt und stadtbürgerliche Freiheiten zurückgegeben. Aus Handwerksbetrieben und Manufakturen entwickeln sich Industriebetriebe und große Unternehmen. Gesellschaft und Wirtschaft wird Dampf gemacht. Bereits 1822 beobachtet der Berliner Student Heinrich Heine, wie mit Dampfmaschinen die Schlossbrücke  errichtet wird. Für das Neue Museum der Museumsinsel liefert Ernst Borsig Dampframmen und Dampfaufzüge. Seine Dampflokomotiven und ein wachsendes Schienennetz reißen die Zollschranken nieder und bereiten von Berlin aus den Weg zur wirtschaftlichen und politischen Einheit Deutschlands. Im Jahre 1848 macht eine Telegrafenleitung von Berlin zur Frankfurter Nationalversammlung ein frisch gegründetes Unternehmen berühmt – Siemens und Halske, das wie auch Emil Rathenaus AEG die spätere Reichshauptstadt zur Elektropolis machen wird.

Sinnbild der Historie von der Altstadt des Mittelalters zur Großstadt der Neuzeit ist das Rote Rathaus, in den Jahren 1860-67 am Ort der Gerichtslaube aus dem 13. Jahrhundert errichtet. (Die Gerichtslaube ziert heute als historisches Denkmal den Park von Babelsberg.) Das neue Rathaus der Großstadt Berlin ist ein mächtiger Bau und mit dem Rathausturm, höher als die Kuppel des Stadtschlosses, weithin sichtbarer Ausdruck eines neu erwachten großstädtischen Bürgersinns.

Der Rathauskubus – drei Mitteltrakte teilen die Vierflügelanlage in drei Höfe – erinnert mit seinen hohen Rundbogenfenstern und dem über dem Eingangsportal emporwachsenden Turm an Renaissance-Palazzi und Rathäuser stolzer italienischer Stadtstaaten. Der rote Backstein gibt dem Rathaus Namen und Tradition. Romantischer Historismus erzählt von märkischer Baukultur und die „Steinerne Chronik“ eines Terrakottareliefs von der Geschichte Berlins und Brandenburgs vom 12. Jahrhundert bis zum Jahr 1871.

Morgen: Teil 5 „Berlin wird Weltstadt – Das Stadthaus“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (3/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Altstadt im Schattendasein

Der Niedergang der Hanse, dieses frühbürgerlichen Vorläufers der modernen europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, ist mit der Herausbildung von Territorial- und Nationalstaaten vorgezeichnet. Es sind die kurfürstlichen Hohenzollern, denen es gelingt, die Mark Brandenburg zu erweitern und gegen den Widerstand des Landadels und unwilliger Städte als Territorialstaat zu festigen. Berlin und Cölln wehren sich gegen den Bau eines burgartigen Schlosses auf der Spreeinsel und fluten im  „Berliner Unwillen“ die Baugrube. Vergeblich. Kurfürst Friedrich II. „Eisenzahn“  bändigt die Städtebünde, beendet die Fehden und Räubereien des Landadels und stärkt seine fürstliche Autorität durch Bau der Schlossfestung und Gründung des Berliner Domes.

Wie kein anderes Land wird die Mark Brandenburg im Dreißigjährigen Krieg durch kaiserliche und schwedische Söldnerheere verwüstet und entleert. Berlin verliert die Hälfte seiner Einwohner. Dem Großen Kurfürsten aber gelingt es, in einem halben Jahrhundert reformfreudiger Herrschaft das Land für Zuwanderer und Flüchtlinge zu öffnen und zu stärken. Berlin erholt sich. Unter dem „preußischen Sonnenkönig“  Friedrich I. werden das Stadtschloss, der deutsche und französische Dom am Gendarmenmarkt und das Zeughaus errichtet und 1709 Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt zur barocken „Haupt- und Residenzstadt Berlin“ des Königreichs Preußen vereinigt. Friedrich der Große macht Preußen zur europäischen Macht. Unter den Linden entstehen Oper, St. Hedwigs – Kathedrale und Bibliothek. Im Glanz und Gloria der königlichen Residenzen in Berlin und Potsdam aber und mit der Entwicklung der Stadt nach Westen fällt das alte Berlin östlich der Spree in ein Schattendasein.

Morgen: Teil 4 „Berlin wird Großstadt – das Rote Rathaus“

 

Die galaktische Mitte

Für die Architektin Petra Kahlfeldt muss ein Stadtkern die Kraft haben, den Rest der Stadt zusammenzuhalten. Das klingt physikalisch. Dass ein Freiraum wie das Rathausforum in Mitte das könnte, glaubt sie nicht. Und da wird es galaktisch, denn sie möchte aus einem schwarzen Loch eine Sonne machen, den Ort downgraden. Dort müsse gebaut werden, sagt sie auf einer CDU-Veranstaltung am Dienstag, und zwar für alle Berliner. Sie möchte Bauten mit Bauten zusammenhalten, die Bezirke Berlins mit einer Mitte-Architektur anführen, die sich gewaschen hat. Das kann man Herausforderung nennen. Aber funktioniert das?

Nicht in der Milchstraße. Milliarden Sonnen werden hier nicht durch eine Riesensonne zusammengehalten, sondern durch etwas, das anders ist als alles andere: dunkel und negativ. Das schwarze Loch im Zentrum der Galaxis hält den Laden zusammen, weil es die strahlenden Massen aufwiegt, ohne selbst Licht auszustrahlen. Kann Architektur sowas leisten?

Nein, kann sie nicht. Das städtebauliche Negativ, das wir an dieser Stelle brauchen, mit positiver Wirkung auf das Umfeld, das ja immer mehr verdichtet wird, ist ein Freiraum. Das neue Schloss, die Kronprinzengärten, die Stadthäuser am Schinkelplatz, die Türme vom Alex, die Blöcke am Molkenmarkt, der Litfassplatz am Hackeschen Markt, das Redevco-Haus an der Rathausstraße – das ist die neue Masse, die die Mitte der Mitte, das Rathausforum, zusammenhalten muss. Astronomisch funktioniert das nur über einen Kontrast. Kann für Berlin verkehrt sein, was in der Milchstraße geht?

Akzeptieren wir das grüne Loch! Wer hier baut, dessen Architekturen wird es verschlingen. Der Hunger dieser Mitte ist unerbittlich, wie die Historie zeigt, und die Sättigungszeiten sind kurz. Schon sperrt sie wieder das Maul auf. Und die Berliner werfen ihr das nächstbeste Stücken Brot in den Rachen. Mahlzeit.

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Eine Mitte der Bürgerschaft (2/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Schöne Aussicht?

Welchen Blick aber, welche „schöne Aussicht“ wird Franco Stellas „Bellevue“ eröffnen, der neue Ostflügel von Schloss und Humboldtforum, auf das historische Berlin östlich der Spree, dort wo einst die Bürgerstadt Berlin entstand? Dazu ein Zitat Günter de Bruyns aus „Unter den Linden“:

 „Was die Kaiserzeit von dem rechts der Spree gelegenen alten Berlin übriggelassen hatte, wurde im Zweiten Weltkrieg zertrümmert und in den Nachkriegsjahrzehnten in eine vom Fernsehturm überragte innerstädtische Leere verwandelt, in der die Betonatrappe des Nikolaiviertels nur schlecht ans Verlorene erinnert und die erhaltene Marienkirche wie ein Fremdkörper wirkt.“

Es ist ein unwirkliches Bild, das sich da bietet, ein sonderbarer Raum. Im Vordergrund eine Kultstätte: ein großes grünes Quadrat um einen steinernen Kreis, in der Mitte ein Standbild umgeben von Stelen und Bildwerken. Im Hintergrund ein futuristisch-außerirdisch anmutendes Panorama: eine sich in Dreiecksmustern und Wasserkaskaden steigernde Achse, hinauf zu einem mit  spitzen Stacheln weit ausgreifenden Sockel, darauf, gekrönt von einer drehenden Kugel, ein hoch in den Himmel ragender Betonturm.

Zwei große Backsteinbauten – Marienkirche und Rotes Rathaus – wollen nicht in dieses Bild passen. In schräger Randlage, ihrer historischen Umgebung entkleidet und bedroht von den Stacheln des Turmsockels,  reckt  St. Marien tapfer ihren kupfernen Turmhelm. Gegenüber, brandenburgisch rot der Backstein und aufrecht der Turm, behauptet sich, ohne Rathausplatz, in die Flucht hoher Plattenbauten gedrängt, das Berliner Rathaus.

Beide Bauten, Kirche und Rathaus, erinnern an die bürgerliche Geschichte Berlins, an die kleinstädtische des Mittelalters, an die großstädtische der Neuzeit.  Die Marienkirche, einst am „Neuen Markt“ gelegen, und die wenig frühere Nikolaikirche, einst am älteren Molkenmarkt, zeugen von der aufstrebenden Kaufmanns- und Handwerkerstadt des Mittelalters. Die Marienverehrung in einer damals neuzeitlichen Hallenkirche, einer bürgerlichen Sammlungs- und Versammlungsstätte, zeugt vom Wandel des Frauen-, Menschen- und Gottesbildes. Berlin schloss sich mit seiner Zwillingsstadt Cölln der norddeutschen Hanse an, dem Schutzbündnis freier gleichberechtigter Handelsstädte. Überall in den Hansestädten werden St. Nikolaus, dem Schutzpatron der Kaufleute und Seefahrer, und der Gottesmutter Maria als „Stella Maris“, rettender Stern auf hoher See, Stadtkirchen errichtet – in Backsteingotik, dem Kleid der Hanse. Berlin ist noch eine kleine Stadt in damaliger Zeit und St. Marien eine kleine Kirche verglichen mit der Mutterkirche der Backsteingotik, der gewaltigen Bürger- und Marktkirche St. Marien in Lübeck, dem Zentrum der Hanse, kleiner auch als der Backstein-Dom der Hansestadt Brandenburg an der Havel, der Ursprungskirche märkischer Gotteshäuser.

Morgen: Teil 3 „Altstadt im Schattendasein“

 

Eine Mitte der Bürgerschaft (1/22)

In dieser 22-teiligen Serie beschreibt Florian Mausbach seine persönlichen Vorstellungen für eine Umgestaltung des Rathausforums in Mitte. Die Texte gehen aus einem Vortrag hervor, den der Autor im September 2012 auf einer Veranstaltung zum Thema gehalten hat.

Staatsbürgerliche, weltbürgerliche und bürgerschaftliche Mitte

Berlins staatsbürgerliche Mitte liegt vor dem Tor der historischen Stadt, dem Brandenburger Tor. Sie ist die neue nationale Mitte der Bundeshauptstadt, geprägt durch den Reichstag, die neuen Bauten des Bundestages und das Kanzleramt im Spreebogen. Die neue Reichstagskuppel ist wie das historische Brandenburger Tor zum Nationalsymbol geworden wie auch das Holocaust-Mahnmal, das an den Abgrund der deutschen Geschichte erinnert. Die Besucherschlange vor dem Reichstag und die nationale Feier-, Fan- und Partymeile vor dem Brandenburger Tor beweisen die Freude der Bürger der Republik über das Ende von Krieg, Teilung und Diktatur und den Stolz auf ihre in Freiheit wiedervereinigte alte und neue Hauptstadt.

Durch das Brandenburger Tor gelangt man Unter den Linden vorbei am Gendarmenmarkt über das Forum Fridericianum auf die Schloss- und Museumsinsel, dem historischen Mittelpunkt Berlins als kurfürstliche, königliche und kaiserliche Residenzstadt. Das in seinen Umrissen wieder erstehende Barockschloss wird Erinnerungen wecken an brandenburgische, preußische und deutsche Geschichte und mit den Zeugnissen der Weltkulturen im Humboldtforum, mit benachbarten Museen, Bibliotheken und Opern, mit Dom und Kathedrale zu einem Kulturzentrum mit weltweiter Ausstrahlung werden, ein Ort nicht nur nationaler, sondern auch internationaler Identität. Hier wird Berlin zur Weltbürgerstadt.

Morgen: Teil 2 „Schöne Aussicht?“

 

Innen hui, außen pfui – Der Marienkirche wird der Hof gemacht

— Bericht — Das Bezirksamt Mitte will das Umfeld der Marienkirche neugestalten. Das von ihm beauftragte Landschaftsarchitektur-Büro Levin Monsigny hat am Dienstag ein Konzept vorgestellt. Es soll ein steinerner, rechteckiger Platz entstehen, der die Kirche einfasst und den Marienkirchhof wieder erkennbar macht; auch das Luther-Denkmal soll vor die Kirche zurückkehren, das heute an ihrer schattigen Nordseite steht. Architekt Rob Grotewal möchte, “dass die Kirche wieder Luft zum Atmen hat”.

Damit will der Bezirk der zunehmenden Verwahrlosung vor Ort wieder Herr werden. Roland Stolte, theologischer Referent der evangelischen Kirchengemeinde St. Petri-St. Marien, hält den Zustand für nicht tolerierbar. Er beschwert sich über den Urin, der unter den Türen durchläuft und über Fäkalien an den Außenwänden der Kirche, und spricht von einer “Diskrepanz zwischen der Sorgfalt im Inneren und der Verwahrlosung außen”.

Kritisiert wird das Konzept von der Gesellschaft für Historisches Berlin (GHB) und vom Bürgerforum Historische Mitte. Klaus Krause von der GHB findet die Absenkung des Marienkirchhofs im Grunde gut, fordert aber eine Gesamtplanung des Rathausforums, weil er befürchtet, dass Fakten geschaffen würden, die einer späteren Gesamtplanung im Wege stehen könnten.

Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) sieht für einen Masterplan Rathausforum aber wenig Chancen, zumindest “nicht in dieser Wahlperiode”. Er hält das aktuell für nicht realistisch und sieht die Möglichkeit für eine Umgestaltung des Kirchhofs – würde man auf eine Gesamtplanung warten – erst wieder im Jahre 2020.

Das Bürgerforum lobt den guten Willen des Bezirks und des Büros, fordert aber, die historische Figur des Marienkirchhofs besser zu berücksichtigen. Stadtplaner Hildebrand Machleidt fragt: “Warum nicht in historischer Authentizität?” Und für den Historiker Benedikt Goebel steht das Konzept sogar in der radikalen, seit 170 Jahre währenden Modernisierungstradition, die den Stadtraum fortlaufend zerstöre. Er forderte Bezirk und Senat auf, das Konzept zu überdenken und “es anders zu versuchen, es anders zu wollen”, so Goebel.

Nur das Denkmal Martin Luthers wollen alle. Kunsthistoriker Jörg Kuhn vom Arbeitskreis Luther-Denkmal kündigt an, es werde eine moderne Interpretation des

historischen Sockels geben und im Januar 2013 ein Expertentreffen für die Planung stattfinden. Das Denkmal wurde 1895 auf dem Neuen Markt vor der Kirche gebaut, kam zu DDR-Zeiten nach Weißensee und wurde im Oktober 1989 an der Karl-Liebknecht-Straße einzeln, ohne Beifiguren wieder aufgestellt.

Der Umbau solle Mitte 2013 beginnen und 2015 enden, sagte Christoph Katerbau vom Landschaftsplanungsamt Mitte. Bauunterbrechungen seien wegen potenzieller Ausgrabungen einkalkuliert. Im September soll das Bezirksamt einen Beschluss fassen, dann die Kosten für eine Finanzierungszusage vorbereiten. Die Finanzierung sei “das ganz, ganz, große Fragezeichen”, so Katerbau. Es handele sich dabei um einen 7-stelligen Betrag, sagte er.

Der Marienkirche wird der Hof gemacht

— Audio — Der Bezirk Mitte will das Umfeld der Marienkirche verschönern. Ihr Pfarrer beschwert sich über Urin und Fäkalien im Außenraum. Ein Architekt hat gestern in der Kirche sein Konzept vorgestellt. Er will sie mit steinernen Sitzbänken einrahmen und das Luther-Denkmal vor den Eingang der Kirche zurückholen. Zu kurz gegriffen im Großen, meint die Gesellschaft Historisches Berlin und fordert eine Gesamtplanung für das Rathausforum. Zu kurz gegriffen im Detail, meint das Bürgerforum Historische Mitte, die in dem „sinnlosen, großen Rechteck“, wie Benedikt Göbel das Konzept beschreibt, Schwierigkeiten hat, den historischen Marienkirchhof wiederzuerkennen. Hier der ganze Kommentar des Historikers in Audio … (und wegen der überbordenden Akustik der Marienkirche zum Mitlesen ins Zitat gesetzt.)

[audio:https://futurberlin.de/wp-content/uploads/2012/09/Auszug-Benedikt-Göbel.mp3|titles=Kommentar von Benedikt Göbel]

Mein Name ist Benedikt Göbel, ich bin Historiker und auch Teil der Planungsgruppe Stadtkern des Bürgerforums Historische Mitte. Ich möchte gerne in aller Kürze sagen, dass aus meiner historischen Betrachtung in diesem Stadtraum Alt-Berlin/Alt-Cölln seit 170 Jahren radikal modernisiert worden ist; die alte Stadt ist zerstört worden und banalisiert. Diese Planung, die uns heute vom Büro Levin Monsigny vorgestellt worden ist, im Auftrag des Bezirksamtes, des Senats, steht für mich in dieser Modernisierungstradition. Ihre Planung ist gut gemeint, Sie meinen es gut, Sie führen schöne Worte im Mund. An der Folie stand, dem Genius Loci wird man nur gerecht, wenn man (…). Was machen Sie aber faktisch? Faktisch ästhetisieren Sie diese Brachialmodernisierung, die in den 60er/70er Jahren durchgeführt worden ist; Sie verharmlosen sie, Sie verschleifen sie; Sie führen ein sehr großes Rechteck, völlig sinnloses großes Rechteck ein, in den Stadtraum, parallel zur großen Achse; und Sie ignorieren, treten mit Füßen die historische Figur des Marienkirchhofs. Das ist eine weitere Banalisierung und Zerstörung dieses Stadtraums. Und ich kann den Bezirk, den Senat, der das verantwortet, nur dringend dazu ermuntern, es anders zu versuchen, es anders zu wollen; dem Ort gerecht zu werden, indem man ihn ernst nimmt, und wirklich die historischen Schichten in die gegenwärtige Gestaltung in echten Dialog treten lässt und es nicht alles zudeckt mit neuer Art von Oberfläche. Vielen Dank.

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„Hingehen, sehen lernen“

Platz der Abwesenheit! – Wer diesen Berliner Ort wirklich finden will, sollte nach keinem Straßenschild suchen. Dem Platz fehlt selbst der Name. Auch die Begriffsschöpfung „Rathausforum“ ist missverständlich, wo das Verständnis von der Geschichte des Ortes keine Selbstverständlichkeit ist. Verena Pfeiffer-Kloss von Urbanophil hat mit Futurberlin über das gesprochen, was zwischen Spree und Fernsehturm anwesend und abwesend ist – und in Zukunft sein könnte.

Frau Pfeiffer-Kloss, Sie halten es mit dem Berlin von Karl Scheffler: „verdammt, immerfort zu werden, niemals zu sein“. Wird Berlin am Rathausforum noch oder ist es schon?

Mich hat dieser Satz fasziniert, weil all diejenigen, die ihn benutzen, ja immer davon ausgehen, mit einer Neubebauung im historischen Stil die Bestimmung zu brechen und eben nicht mehr wollen, dass Berlin immer weiter wird.

Sie wollen, dass man das Rathausforum sein lässt. Warum?

Weil es sich, wenn etwas Neues wiederentsteht, doch um ein Fortführen der Bestimmung handelt, auch wenn es auf historischem Grundriss geschieht, weil dann das, was jetzt da ist, komplett verschwindet.

Was ist da, zwischen Spree und Alexanderplatz?

Ein Stadtensemble aus den 60er Jahren mit zugehöriger Freiraumplanung aus den 70ern, das die urbane Idee der Nachkriegsmoderne der DDR exemplarisch repräsentiert. Es ist eine Rarität an so einem zentralen Ort Berlins, historisch und städtebaulich wertvoll.

 

Sie haben sich mit der Rolle von Abwesenheit an dem Ort beschäftigt. Was ist hier abwesend?

Der Ort ist voller Abwesenheiten, von der Bebauung des Mittelalters über die Bauten des 19. Jahrhunderts bis zu den späteren Veränderungen. Straßen sind abwesend, der Stadtgrundriss. Es sind verschiedene Schichten von Abwesenheiten auf dem Platz.

Abwesenheiten, von denen Viele nichts wissen, Laien, Touristen. Wie kann man die Abwesenheiten erkennbar machen, kommunizieren?

Durch Erzählen. Ich hatte ein schönes Erlebnis auf dem Platz mit einem jungen Paar aus Bonn, das hier zu Besuch war. Ich habe die beiden angesprochen und war überrascht, wie unglaublich positiv sie den Ort empfanden, weil sie gleich meinten, hier sei soviel Platz, und es sei wie auf einem Boulevard in Paris …

Oh.

… ja, ich war auch überrascht, wo doch oft eine so negative Szenerie bei dem Platz heraufbeschworen wird. Dann habe ich auf die Kirche gezeigt und erzählt, dass sie ein Relikt aus dem mittelalterlichen Berlin ist und dieser Ort früher, als erste Stadterweiterung Berlins, dicht bebaut gewesen, eben der Kern des alten Berlins ist. Sofort wurden sie still, haben sich umgeschaut und gesagt: Aha, dann ist das jetzt irgendwie etwas anderes.

Was heißt das?

Dass das Wissen um Abwesendes Emotionen auslöst und auch ein solches Gespräch und auch eine städtebauliche Debatte beeinflussen kann.

Ist der Begriff Abwesenheit für Sie positiv oder negativ besetzt?

Weder noch. Man kann den Begriff neutral benutzen. Gerade bei städtebaulichen Debatten wird ganz oft über Verluste gesprochen. Verlust ist jedenfalls ein negativ konnotiertes Wort, wie auch Nichts oder Leere. Wenn man aber das Wort Abwesenheit benutzt, dann heißt das erstmal nur, dass etwas ganz Bestimmtes nicht mehr da oder noch nicht da ist. Man kann sich ja auch darüber freuen, dass etwas nicht mehr da ist.

Kulturstaatssekretär André Schmitz (SPD) freut sich über die abwesende Altstadt nicht, schätze ich. Er fordert eine „urbane Rückgewinnung“ des Ortes und sieht für die Freifläche keine Zukunft. Wie beurteilen Sie das?

Die Frage, die ich mir gestellt habe, war: Worum geht es hier eigentlich? Geht es um die abwesende Altstadt oder um die Abwesenheit der Altstadt? Worum es auf jeden Fall immer geht, ist die Frage nach Urbanität. An dieser Stelle würde ich immer fragen, was eigentlich das jeweilige Verständnis von Urbanität ist, ob sich das an einer bestimmten Bebauung festmachen lässt und ob Freiräume keine Urbanität schaffen können. Ist eine kleinteilige Bebauung wirklich urban?

Ist sie es denn irgendwo nicht?

Wenn ich mir eine Stadt ansehe wie Budapest: In Buda liegen auf dem Berg das barocke Schloss und die alte Bürgerstadt, auf mittelalterlichem Grundriss. Es wirkt dort ganz beschaulich, ein bisschen romantisch, aber überhaupt nicht urban. In Pest liegt die gründerzeitliche Neustadt mit der großen breiten Straße, dem Boulevard. Dort ist es, wie wir das heute auch verstehen, urban. Ich bin mir nicht sicher, ob das Ziel einer Urbanität durch kleinteilige Strukturen erreicht werden kann.

Es gibt ja auch die Planungen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die 2009 vorgestellt wurden. Die wollen den Freiraum erhalten und qualifizieren. Deckt sich das mit Ihrem Ansatz der Bestandserhaltung?

Das waren ja Diskussionsgrundlagen. Ich finde diese Qualifizierungsvarianten nicht gelungen, weil sie oft so eine Unernsthaftigkeit haben, die der Bedeutung des Ortes nicht gerecht wird. Also ich rede jetzt gar nicht von diesem See. Auch diese kleinen Berge, die bei der IBA 2020 aufgetürmt werden, wirken wie etwas Sandkastenartiges.

 

Eine der Varianten war aber auch ein großer, freier Stadtpark. Das wäre doch auch eine Art, den Freiraum zu erhalten oder?

Ein Park ist aber kein Platz. Wichtig ist mir der Erhalt des Ortes als Stadtplatz. Deswegen würde ich auch eine Parkvariante mit vollkommener Begrünung nicht gut finden.

Was wollen Sie dann?

Ich bin für ein denkmalpflegerisches Konzept.

Was bedeutet Abwesenheit für Sie denn genauer?

Abwesenheit in Städtebau und Architektur ist eine subjektive Empfindung. Das ist die Grundannahme. Dann ist die Idee, dass Abwesenheit sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft verweisen kann: also dass etwas abwesend ist, weil es einst da war, jetzt aber nicht mehr da ist oder dass etwas abwesend ist, weil man es plant, weil es da sein soll, aber noch nicht da ist. Abwesenheiten können die individuelle Wahrnehmung eines Ortes verändern, wie bei den Bonner Touristen vorhin. Bei geschicktem Einsatz der Abwesenheit als Medium, klassischerweise in Form von gut ausgewählten und zielgerichtet zusammengesetzten Bildern, kann Abwesenheit auch die kollektive Wahrnehmung eines Ortes beeinflussen.

Was ist mit den unterirdischen Stadtresten, die unter dem „Platz der Abwesenheit!“ liegen, wie Sie das Rathausforum auch bezeichnen. Sind sie ab- oder anwesend?

Die sind anwesend. Auch wenn man sie nicht sehen kann oder nur an bestimmten Stellen, aber sie sind definitiv da. Das sind ja nicht nur Bilder, sondern das ist die Originalsubstanz, die da im Boden liegt.

Staatsekretär für Stadtentwicklung Ephraim Gothe (SPD) will zunächst eine strukturierte Debatte über den Ort führen. Welche Erfolgsaussichten hat das?

Die Ansätze sind ja immer einseitig, noch zu radikal, emotional. Den Bebauungsbefürwortern geht es auch um einen großen Zug gegen die Nachkriegsmoderne, Ostmoderne. Den Menschen, die sich für die Freifläche aussprechen, geht es um ihr Lebensumfeld und um den Umgang mit Geschichte. Bei den Veranstaltungen sind sich dann jeweils alle einig. Die beiden Meinungen sind aktuell noch zu weit auseinander, zu sehr Feind. Ich glaube, dass so schnell kein vernünftiger Dialog zu Stande kommen kann. – Außer über die archäologischen Funde! Ich denke, dass sie ein unglaublich guter Anknüpfungspunkt sind, weil sie in der Tat echtes, originales Anwesendes sind, das alles verbindet.

 

Was bleibt zu tun?

Sehen lernen. Hingehen, noch mal hinschauen. Dann entwickelt man plötzlich ein Gefühl dazu. Es ist wichtig, dass man herausgeht und ins Original schaut.

Zurück zur Abwesenheit. Sie schreiben, dass sogar von noch abwesenden Gebäuden städtebauliche Gestaltungskraft ausgehen könne. Wie wirken das Humboldtforum und die geplanten Türme vom Alex auf den Ort?

Das Interessante ist, dass in der Diskussion um die Platzgestaltung der Alex nie eine Rolle spielt.

Das Schloss, das von Westen kommt, aber schon?

Genau. Das Schloss schon. Das ist immer dieser Antagonismus Schloss und Bürgerstadt. Der wird immer aufgemacht. Ich denke, man muss da aufpassen. Wenn man heute das Marx-Engels-Forum mit etwas bebaut, dann wäre ja auch der Stadtplatz vor dem Rathaus wesentlich kleiner und hätte einen Abschluss. Dann passt er wieder, dann stimmt der Platz mehr. Jetzt ist die Frage, kommt das Schloss? – Wahrscheinlich kommt es. Wenn das Schloss dann aber da ist, eignet sich wiederum eine Grünfläche gegenüber dem Schloss ganz gut.

Heißt das, dass das Marx-Engels-Forum und der Platz direkt vor dem Rathaus als zwei verschiedene Raumelemente betrachtet werden müssen?

Das ist eine Unterscheidung, die gemacht werden muss, und die eigentlich viel zu selten gemacht wird. Das Marx-Engels-Forum hat eine ganz andere Geschichte als der Stadtplatz vor dem Rathaus. Es ist aus der Not entstanden, weil das von der DDR geplante Zentrale Gebäude nie kam, immer abwesend blieb. Wenn man das als Maßstab anlegt, um die Wertigkeit dieses Ensembles zu bestimmen, kann man leicht auf die Idee kommen, zu sagen, das Forum als Notlösung ist nichts wert. Dabei ist es auch ein Zeugnis dieser Geschichte und ein Zeugnis der Abwesenheit.

 

Gesetzt den Fall, das Rathausforum wäre in der Zukunft bebaut. Wäre der heutige Freiraum in der Lage, als vergangene Abwesenheit zu wirken, wie es heute die Altstadt tut?

Ich denke, dass der Freiraum auch das Potenzial hätte, abwesend zu sein. Ich weiß, dass die Bürger, die hier wohnen, hier leben ja viele Menschen, sich jetzt schon dafür stark machen, den Raum eben nicht verschwinden zu lassen. Man könnte ganz sicher, wenn er nicht mehr da wäre – und er ist ja nicht mehr da, wenn er bebaut ist – mit Bildern des jetzigen Raumes ein Gefühl von Verlust und Abwesenheit schaffen.

Ephraim Gothe wird den Dialog also weiterführen, den Senatsbaudirektorin Regula Lüscher 2009 schon begonnen hat. Welcher Kompromiss könnte am Ende der Diskussionen herauskommen?

Es gibt keinen Kompromiss an dem Ort. Es gab mal diesen Vorschlag in den 90er Jahren mit der kritischen Rekonstruktion von Bernd Albers und Dieter Hoffmann-Axthelm, der ja nachher nicht ins Planwerk Innenstadt kam, weil er einfach unzureichend und unzutreffend war. Ich denke, an dem Beispiel wird klar, dass dieser Ort entweder eine gestaltete Freifläche bleiben oder eben komplett bebaut werden muss. Ein paar Kuben unvermittelt in den Raum zu stellen, kann hier nicht funktionieren.

 

Wer teilt den Ansatz der Bestandsentwicklung mit Ihnen?

Da bin ich in ganz guter Gesellschaft von Menschen, die eine gute nachkriegsmoderne Gestaltung schätzen und auch der Freiraumplaner. Und eigentlich müsste auch jeder Stadtklimaforscher meiner Meinung sein.

Frau Pfeiffer-Kloss, schönen Dank für das Gespräch!

Zur Person:

Verena Pfeiffer-Kloss, Jahrgang 1981, Dipl. Ing. für Stadt- und Regionalplanung. Vorsitzende von Urbanophil e.V. – Netzwerk für urbane Kultur, Lehrauftrag an der TU Berlin im Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie, Mitarbeit bei complan Kommunalberatung.

Diplomarbeit von Verena Pfeiffer-Kloss:

Platz der Abwesenheit! – Analyse der Gestaltungsdebatte 2009/10 um den Teil des historischen Berlins zwischen Spree und Alexanderplatz, Institut für Stadt- und Regionalplanung TU Berlin, 2011.

(Dieser Beitrag ist die „extended version“ des taz-Interviews vom 28. März 2012)

 

Der Turm der Touristen

— Nachricht —

Der Fernsehturm wird im Winter modernisiert. Bis März nächsten Jahres sollen Foyer am Boden, Panoramaetage und Restaurant in der Kugel für rund 1,5 Millionen Euro umgebaut werden, schreibt der Spiegel. Das passiert bei laufendem Besucherverkehr, nur im Februar schließt der Turm für zwei bis drei Wochen. Pro Jahr kommen ca. 1,2 Millionen Gäste hierher. Wie die Berliner Zeitung berichtet, hat die letzte Renovierung des Gebäudes vor 15 Jahren stattgefunden, es ist mit 368 Metern das höchste Deutschlands und steht unter Denkmalschutz. Teile der Ausstattung können deshalb nicht verändert werden, zum Beispiel die bunten Glasbausteine in den Wänden und Treppengeländer. Dagegen wird die Bar in der Panoramaetage verspiegelt, der Teppich bekommt wärmere Farben, die Garderobe wird aus Sicherheitsgründen nach unten ins Foyer verlegt, und hier betritt man den Turm zukünftig durch eine Drehtür und wartet – bis zu 90 Minuten – auf roten Sofas bis es mit dem Lift in 40 Sekunden für derzeit mindestens elf Euro Eintritt nach oben geht. Der Fernsehturm feierte am 3. Oktober 2009 sein 40-jähriges Jubiläum. (Spiegel, Berliner Zeitung, Futurberlin)

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Das Städtchen an der Kirche – auf Zeit

— Fotostory, Meinung —

Der Weihnachtsmarkt vorm Roten Rathaus macht Stimmung, und zwar eine ganz besondere. Veranstalter Hans-Dieter Laubinger hat hier kulissenhaft das Berliner Marienviertel aufgebaut, nach dem sich einige Architekten und Politiker Berlins so sehnen. Aber ab dem 27. Dezember wird das aufwendige Fassenwerk am Fuße des Fernsehturms wieder zurückgebaut und schon bald verschwunden sein. Und wer vermisst das Städtchen dann? Laubinger hat ein Gefühl für Orte im Wandel. Seine Weihnachtsmärkte sind vom Alexa und Palastabriss verdrängt worden. Seit drei Jahren schlägt er sein Fest vor dem Roten Rathaus auf, an der Marienkirche. Ein Interview in der Bauwelt 47.10 zeigt, dass er versteht, wie dieser besondere Stadtraum funktioniert. Hier zunächst ein paar Eindrücke. – Die erste Fotostory auf futurberlin mit 13 Bildern.

Temporäres Triadentum: Hier wird mittels leicht übermannshohem Pyramidenbau das bereits vorhandene Stadtbildpotenzial, 365 Tage im Jahr präsentiert durch das Zweiergespann Marienkirche-Fernsehturm, in einen neuen Dreiklang überführt. Berlins höchste Vertikale von 368 Metern wird über die Turmspitze der Marienkirche nahezu bis auf Kopfhöhe der Menschen heruntergebrochen. Girlande gefällig?

Es mittelaltert doch sehr. Der Nachbar dieser Taverne verkauft Ganzkörper-Felle, Met und Trinkhörner aller Art. Nur geschmiedet wird nicht.

"Adressen bilden", dieses Stichwort ist in der Berliner Stadtplanung immer wieder zu hören. Willkommen also an der Marienkirche/Ecke Neptunbrunnen mit straßenbegleitender Laterne. - Kein Armleuchter das Ding, aber vollverkabelt und ohne Gas. Rechts an das Bild schließt sich der Neptunbrunnen mit Eisbahn an.

Hier lässt sich die Marienkirche mal so richtig die Sonne auf den Pelz scheinen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich hier nicht um das originale Kirchenschiff handelt, sondern um ein Altberliner Bürgerhaus. Das beides nahtlos zusammenpasst, ist hier eine Frage der fotografischen Perspektive und dort (in der Debatte) wie reichhaltig man seine Trickkiste vorher füllt, bevor man sich später argumentativ aus ihr bedient.

Alles Fließende erstarrt im neuen deutschen Winter. Auch die Berliner Damen am Beckenrand des Neptunbrunnens, der Legende nach "die einzigen Berlinerinnen, die den Rand halten können", gucken etwas bedäppert aus den Schneemassen ihrer verfrorenen preußischen Flüsse, die sie repräsentieren. Nur das Krokodil scheint irgendwie Spaß daran zu haben.

Gigantisch wie ein Atomreaktor entwächst dem Dachstuhl des Bürgerhäuschens hier der Schaft des Fernsehturms. Wenn´s Türmchen einknickt, ist´s Hüttchen futsch.

Die Kulisse der Altstadt wirkt vor dem Hintergrund der Rathauspassagen wie ein Gartenzaun für den sozialistischen Städtebau.

Auf den Anblick des Schafts des Fernsehturms werden wir verzichten müssen, sollte das Marienviertel auferstehen. Stadthausfassade oder Turmfaszination - man kann nur eines haben.

Das ist die Hauptstraße des Weihnachtsmarkts vorm Roten Rathaus: Sie führt vom Riesenrad am Neptunbrunnen geradewegs zum Hotel Park Inn.

Fassadenspielerei ist eine Facette des Städtebaus. Interessant ist hier die farbliche Verwandschaft mit dem Turm der Marienkirche.

Die Fassadenkulisse auf dem Weihnachtsmarkt ist (nur) maximal 7,50 Meter hoch. Marktleiter Hans-Dieter Laubinger gewährt der Marienkirche durchaus visuelle Mitwirkungsrechte. Bei einer Bebauung des Areals mit 22 Meter Berliner Traufhöhe würde sie aus dem Stadtbild weitesgehend verschwinden. - Aus den Augen aus dem Sinn.

Jemand zu Hause? - Wer hier in Zukunft wohnen würde, hätte weder einen langen Weg zum Rathaus, noch zu den Bänken vor dem Altar: Hier könnte er sich bei den Regierenden für die Baurechte bedanken, dort vor Gott dafür Buße tun, sich mit dem Immobilienkauf öffentlichen Raum unter den Nagel gerissen zu haben, der einst den Berlinern gehörte - und im Grunde jedermann.

Und dann taucht auf dem Weg Richtung Alexanderplatz das richtige, prächtige Kirchenschiff von St. Marien doch noch auf. Gott sei Dank, wenn auch nur in Teilen.

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