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Die Ganzschlauen von der Torstraße – Eine Spezie zerfleischt sich selbst

Es fuhren einmal Blinde auf Rädern vom Prenzlauer Berg herab. Man wollte meinen, sie wollten ins Blindenrestaurant in der Gormannstraße. Ja, in die Gormannstraße wollten sie schon. Aber war ihnen nicht hungrig zu Mute. Eilig hatten sie´s, wohin zu kommen. Wohin auch immer. Da nahm ein jeder die falsche Radspur. Quer schossen die Blinden über die Torstraße. Geradeaus hätten sie fahren können. Geradeaus hätten sie fahren müssen! Doch sahen sie nicht den Überweg, den schnellsten über die Gleise. Nein, sie preschten durch das Nadelöhr, die Narren aus dem Norden. So rammten die blinden Nordradler gegen die sehenden Südradler. Und einem Südradler, dem Armen, fiel nach dem Zusammenstoß das Auge heraus… Bis der Blinden immer mehr wurden.

Die Mär vom Radeln mit Köpfchen

Ich hoffe, in 200 Jahren schreibt keiner so ein Märchen. Warum benutzen die Leute, die aus der Choriner Straße kommen, die Fahrradschleuse auf der Torstraße nicht? Sehen sie die Anlage nicht? Oder ignorieren sie sie? Jemand müsste sie mal fragen. Vielleicht mache ich das.

Ich meine, die Torstraße braucht einen Fahrradschleuser: Eine offizielle Figur, warum nicht einen Mitarbeiter aus dem Ordnungsamt, der die Nordradler (aus dem Norden kommend) daraufhinweist, dass sie den falschen Weg nehmen. Das Ordnungsamt, das nur den ruhenden Verkehr beaufsichtigt, könnte das machen, weil die Radfahrer, wenn die (Fußgänger-)Ampel auf rot steht, sich mit den wartenden Fußgängern auf den Gehweg stellen (nördliche Seite der Torstraße).

Ich kenne keine vergleichbare Straßensituation in Berlin. Das Schlimmste an der Torstraße ist: Radfahrer behindern Radfahrer. Das hat etwas Kanibalistisches, eine Spezie zerfleischt sich selbst.

Und dann Prenzlauer Berg! Wohnen dort nicht schlaue Menschen? Bestimmt. Rasen sie runter an die Torstraße, halten sie es für das Schlaueste, die schlaue Wegeführung auszutricksen. Das sind die Ganzschlauen.

Torstraße „at its best“: Ein „Ganzschlauer“ aus dem Norden (im Bild jenseits der Gleise) will an 4 Radlern und 5 Fußgängern vorbei (Foto: André Franke)

Nordradler! Das gewinnst du, wenn du es richtig machst:

  1. Du überquerst die Torstraße (zunächst) ohne Ampel sowie keine Autos kommen, während die Fußgänger (Nord- und Südseite) und die Radfahrer (Südseite) noch bei rot warten.
  2. Fährst du gemeinsam mit Partnern bietet die langgezogene Fahrradschleuse genug Platz für alle.
  3. Du brauchst in der Fahrradschleuse nicht von deinem Rad abzusteigen, wenn die Fahrradampel auf rot steht; bleib auf dem Sattel und stütze dich mit den Füßen am Tramgeländer ab.
  4. Auf der anderen Seite der Tramgleise entlässt dich eine gelb-blinkende Ampel auf die Südseite der Torstraße. Auch hier sind die Fußgängerampeln irrelevant für dein Weiterkommen in die Gormannstraße. Du fährst, wenn kein Auto kommt. Und du fährst, wenn kein Auto dir den Weg versperrt. Das kommt manchmal vor. Aber selbst wenn, hätte die Selbstzerfleischung der Radfahrer auf der Torstraße ihr Ende gefunden.

Critical Mass: StVO im Kasernenton

Eigentlich wollte ich gestern noch was zum Zu-Fuß-Gehen schreiben, aber angesichts der „Critical Mass“ vom Freitag schalte ich in den zweiten Gang menschlicher Mobilität. Ist das nicht das Radfahren?

Als sich am Freitagabend gegen halb acht Uhr etwa 20 Leute am Mariannenplatz in Kreuzberg versammelt hatten, dachte ich nicht, dass wir zwei Stunden später mit, ich schätze, mehr als 2.000 Rädern die Spandauer Altstadt umrunden würden. Was zog sich die Strecke dorthin jenseits der Stadtautobahn … U-Bahhof Ruhleben … Endlich Ikea! Die „Ruhlebener Klause“ klatschte Beifall. An den Tanken holten wir was zum Trinken. Ein Vater, der seine Tochter im Lastenrad chauffierte, rief: „Und einen Lutscher!“ Andere „korkten“, wie es heißt, die Straßenquerungen, um sicherzustellen, dass nicht Busse, nicht Autos, nicht andere Fahrradfahrer, auch nicht Fußgänger die mobile Masse, die „kritische“ Masse an der Durchfahrt hinderten. Denn die ist legitim. Jedenfalls solange der Verband zusammenhängend bleibt. Und zu einem solchen werden wir nach der Straßenverkehrsordnung ab 16 Radfahrern.

Korken? Die Critical Mass ist auch „critical“

Das Korken bringt Konflikte mit genervten Auto- aber auch Mopedfahrern mit sich. Eigentlich ist es rechtlich „Too much“. Aber ohne diese Flankensicherung würden querende Verkehrsteilnehmer frustriert in die Menge fahren. Ein Mopedfahrer hat das gegen dreiundzwanzig Uhr auf der Leipziger Straße getan, fuhr einfach in die Masse rein. – Sehr verrückt. Das brachte einen Critical-Mass-Fahrer dermaßen in Rage, dass ich glaubte, auch dieser müsse verrückt geworden sein. Er schrie den Verkehrsverletzer mit maximaler Lautstärke an. Das Verrückte, das Zivilisierte: Er kam ihm nicht zu nahe, wurde nicht handgreiflich, nicht ausfällig, nicht vulgär. Stattdessen rezitierte er die Straßenverkehrsordnung. Akkurat im Kasernenton. Aber voller Leidenschaft.

Macht mal anders

Die „Critical Mass“ ist eine Machtdemonstration. Das begriff ich nach etwa 30 Kilometern. Sie kehrt das alltägliche Kräfteverhältnis zwischen (insbesondere) Autofahrern und Radfahrern ins Gegenteil. Einmal pro Monat. Das tut gut. Ich glaube, beide Seiten lernen.

Gegen Mitternacht war ich wieder zu Hause. War etwa 45 Kilometer gefahren. Hatte einen Sturz gesehen, auch: eine verzweifelt auf der Kreuzung Potsdamer- /Ecke Bülowstraße stehende Polizistin, die entweder nicht informiert war oder den sich lose auseinanderziehenden „Verband“ nicht akzeptieren wollte. Und hatte mit meinem niederländischen Kollegen Sido radelnd auch einmal entspannt über unsere Rente geplaudert. Sieht so aus, als würden wir noch sehr lange radeln müssen. Aber das w o l l e n wir ja.


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Was suchen Schlepper am Checkpoint Charlie?

Laster? - Nachts bitte! Dann gibt´s hier genug Platz. Checkpoint Charlie, 2014 (Foto: André Franke)

Laster? – Nachts bitte! Dann gibt´s hier genug Platz. Checkpoint Charlie, 2014 (Foto: André Franke)

Nach einem Verkehrsunfall nahe dem Checkpoint Charlie, bei dem am Mittwoch ein 40-Tonner beim Rechtsabbiegen eine Radfahrerin erfasste, fordern Unfallforscher und die Politik nichts anderes als den „elektronischen Abbiege-Assistenten“? Wer das Foto im Tagesspiegel sieht, wie der lange Schlepper sich über die gesamte Kreuzung dreht, begreift doch sofort, dass das Problem nicht der Richtungswechsel des Lkw war. Was hat so ein Gefährt überhaupt in der einspurigen Friedrichstraße zu suchen? Erst recht am Touristenort Checkpoint Charlie? Nachts ist zwar tote Hose hier. Tagsüber stören aber selbst Reisebusse. Auch die sollten den Checkpoint Charlie nicht mehr kreuzen dürfen! Ich kann mir vorstellen, der lange Laster kam oder wollte zu einer innerstädtischen Baustelle. Schloss, U5, Museumsinsel, Schinkelplatz … Gibt es eigentlich ein Konzept der Verkehrslenkung für die Berliner Baustellenerschließung?

Heute abend startet die Radprotestbewegung „Critical Mass Berlin“ vom Mariannenplatz um 20 Uhr (Ziel: Checkpoint Charlie)

Mit Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fahrradgerechtigkeit?

Es war ein Satz wie aus einem Drehbuch. Deshalb war er mir sofort symphatisch. Senator für Stadtentwicklung Michael Müller (SPD) freut sich in einem Artikel der “Welt” darüber, dass immer mehr Berliner mit dem Rad fahren, lässt die Infrastruktur für den Radverkehr ausbauen, schiebt aber allzu großen Hoffnungen auf eine entschlossene Wende in der Berliner Verkehrspolitik den Riegel vor:

„Wir werden den alten Fehler einer autogerechten Stadt nicht durch den neuen Fehler einer fahrradgerechten Stadt wiederholen.”

Linienstraße Ecke Gormannstraße

Linienstraße Ecke Gormannstraße: eine Alltagsblockade im Juni 2014. Ich zähle 4 Kfz und 5 Radfahrer. Das macht zwar einen Radverkehrsanteil im Modalsplit von über 50 Prozent, aber durch kommt hier keiner mehr.

Klingt gut, wie gesagt, trifft aber ins Leere:

  1. weil die neuen, potenziellen Fehler einer fahrradgerechten Stadt verglichen mit den Schwerst-Eingriffen der autogerechten Stadt leichtfüßiger, stadtraumverträglicher und schneller revidierbar wären. Der Umbau der Stadt von der autogerechten zur fahrradgerechten ist organisatorischer Art, nicht baulicher;
  2. weil sich “Autogerechtigkeit” und “Fahrradgerechtigkeit” gar nicht unbedingt ausschließen. Die “Fahrradstraße” Linienstraße in Mitte zum Beispiel soll ja von ihrer Konzeption her Klarheit schaffen: Autos auf die Torstraße, Räder auf die parallel verlaufende Linienstraße. Beide Verkehrsarten profitierten davon, wenn man das Konzept konsequent umgesetzt hätte und den Kompromiss mit der Anliegerstraße nicht eingegangen wäre. Stattdessen haben wir mit der unheilvollen Kombination aus (sowohl fahrendem, als auch ruhendem) Anlieger-, Liefer- und besonders durch die Taxen praktizierten Durchgangsverkehr, nach einem Bericht der Berliner Zeitung den drittgefährlichsten Radverkehrsort in Berlin geschaffen (nach Schönhauser Allee: Nr. 1 und Unter den Linden: Nr. 2);
  3. weil es jenseits von beidem um eine übergeordnete Verkehrsgerechtigkeit gehen muss, die nicht nur kleinräumig, wie am Beispiel von Tor- und Linienstraße, sondern auch auf größerem Maßstab zum Tragen kommen sollte. Michael Müller sagt ja auch, es sei wichtig, die Verkehrspolitik an das sich wandelnde Mobilitätsverhalten anzupassen. Das hieße aber, die gemessenen Verschiebungen im Modalsplit auf die Straße zu übertragen. Automatisch entstünde die Fahrradstadt in Teilen der Berliner Innenstadt, und es bliebe gleichzeitig genug Autogerechtigkeit für den Kfz-Verkehr in den Außenbezirken, Radial- und Tangentialstraßen.

Wir dürfen keinen Leitbild-Krieg führen. Vielleicht meint der Senator das. Aber wie zwei Muskeln im konträren Zusammenspiel dafür sorgen, dass sich der Knochen bewegt (was mir mein gerade zu Ende gehender Hexenschuss im Negativ vor Augen führte), so brauchen wir auch beide, aufeinander abgestimmte und sich nicht gegenseitig blockierende “Teilgerechtigkeiten” für die Bewegung in Berlin – damit kein Krampf entsteht wie in der Linienstraße und damit wir uns die Knochen am Ende nicht brechen.

Schiller philosophierte bei seiner akademischen Antrittsrede in Jena einst über die Frage: “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?” und beschreibt die ideale Geisteshaltung des Wissenschaftlers, den “philosophischen Kopf”, den wir wider aller Systeme und Fahneninschriften in Berlin brauchen:

“Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den “Brotgelehrten” niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung (z.B. 50 Prozent Radverkehrsanteil in der Kastanienallee schon im Jahre 2010 – Anm. d. Verf.), ein neuentdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener wiederherzustellen.”

Schweizer „Velo-Sack“ an der Oranienburger gefunden

Der Austausch über Stadtentwicklung kann so fruchtbar sein. Vor allem wenn er länderübergreifend stattfindet. Hier das Gelernte von einer exklusiven Zukunft-Berlin-Tour vom Montag.

Schweizerische Straßenbaukommissare waren am Montag unterwegs mit mir auf einer Zukunft-Berlin-Tour. Da sie sich auch speziell fürs Thema Fahrradstadt interessierten, begannen wir die Tour über die Choriner und Linienstraße. Beides sind bekanntlich ausgewiesene “Fahrradstraßen”. Etappenziel: das Fahrradfahrerlinksabbiegervorhaltefenster am Ende der Linienstraße, wo auch die Oranienburger auf die Friedrichstraße trifft. Ich wiederholte die Behördenvokabel mehrmals. Die Schweizer kannten die Einrichtung, aber nicht den Begriff. “Bei uns heißt das”, sagte einer ganz trocken, “Velo-Sack”. – Wie geil war das denn! Kurz darauf fragte einer, ob es nicht auch bei uns in Deutschland irgendeine Abkürzung dafür gebe. Ich kenne keine, aber werde mich dafür einsetzen, dass sich “Velo-Sack” durchsetzt. Versprochen, meine lieben Kommissare.

"Velo-Sack"