105.425 Fahrradvolksstimmen und Moses Mendelssohn stimmt mit
Eventing kann ein Drahtseilakt sein. 12:15 Uhr trafen sich die Volksentscheid-Radler, um die gesammelten Unterschriften mit Lastenrädern zur Senatsverwaltung für Inneres zu bringen, 12:30 Uhr fand die Einweihung des Moses-Mendelssohn-Denkmals von Micha Ullmann an der Spandauer Straße statt. Meine zündende Idee, zuerst zum Volksentscheid-Treff und dann mit der Kolonne zu fahren und an der Liebknecht-Straße /Ecke Spandauer abzuspringen und rein ins historisch-kulturell-philosophische, ging nicht auf. Die Volksentscheidler tranken Bier und ließen sich Zeit mit dem Start.
So wurde es am Dienstag Mittag doch erstmal Mendelssohn. Nach acht Jahren Planungszeit hat Ullmann ihm ein Denkmal gesetzt. An der Stelle, wo er einst wohnte: in der Spandauer Straße Nr. … Die Hausnummer ist irrelevant, denn in der Spandauer Straße zwischen Liebknecht- und Rathausstraße stehen längst keine Häuser mehr. Mendelssohn wohnte heute in den Büschen des Rathausforums, am Rande eines gepflasterten Weges, der vom Neptunbrunnen zu „Nordsee“ rüberführt. Weil man am Rathausforum nach politischer Anerkennung der „Bürgerleitlinien“ aus der Stadtdebatte um die Berliner Mitte aber noch weit davon entfernt ist, das Riesengelände wiederzubebauen, braucht es die Kreativität eines echten Künstlers, die Dimension des Verlustes auszudrücken – auch des städtebaulichen.
So hat Micha Ullmann die Fassade des verlorenen Hauses in die Horizontale gekippt: eine Tür, zwölf Fenster, und man spaziert jetzt drüber. Manche merken´s gar nicht. Moses M., der zum Dreiergestirn der Berliner Aufklärung zählt, sorgt also sogar nach über 200 Jahren noch für eine gewisse Aufklärung über die harte Realität des Berliner Grund und Bodens. Kulturstaatssekretär Tim Renner sagte bei seiner Eröffnungsrede (noch trocken), bei Regen würde der Effekt eintreten, dass die Fenster, weil nass, die Umwelt des Denkmals spiegeln, so wie es der Künstler beabsichtigt habe. – Es regnete dann tatsächlich. Und ich sah die vertikal gespiegelte Marienkirche in Mendelssohns Fenster.
Ja, wir müssen die Stadt auf den Kopf stellen, um zu erkennen, was sie kann. Die Fahrradvolksentscheidler taten das am Dienstag auf ihre Weise, indem sie fünfmal mehr Unterschriften einreichten als für die erste Hürde auf dem Weg zum Volksentscheid notwendig waren. Sie fuhren die Aktenordner direkt an der Denkmalseinweihung vorbei!! Wohl nahmen weder sie Kenntnis von der Mendelssohn-Gesellschaft, noch die Mendelssohn-Gesellschaft von der anrollenden Fahrradstadt. Aber die beiden für die Stadtentwicklung in Berlin sehr prägnanten Events gingen doch auf diese irgendwie schöne Weise Hand in Hand. Ich hab´s gesehen. Und mir gleich ein neues Fahrrad gekauft – plus Kindervorderlader. Endlich.