Die Eröffnung des Leipziger Platz Quartiers verzögert sich. Dennoch steht der “Alte Dessauer” bereit und leitet die zukünftigen Besucherströme in die neue Shopping Mall – bald, vielleicht im Herbst
Lichthof des alten Warenhaus Wertheim mit Kupferstatue „Frau Wertheim“
Es war sein Lichthof, der das Besondere war. Und das Besondere wird wieder ein Lichthof sein. Mit der überdachten Piazza zitieren die Architekten des Leipziger Platz Quartiers das Herzstück des einstigen Warenhauses Wertheim. Zwischen den Weltkriegen war es das größte in Europa, nach dem Mauerbau war es weg. Und mit ihm auch der Lichthof mit der an den Treppen postierten sechs Meter hohen Kupferstatue “Arbeit”, von den Mitarbeitern auch “Frau Wertheim” genannt. Am Bauzaun Leipziger Platz Nr. 12 war sie in den letzten Monaten zu sehen. Aber die neue Piazza braucht Statuen nicht, sie bietet den Besuchern den Blick auf die Borussia im Giebel des Bundesrats.
Seit dreieinhalb Jahren wird am Leipziger Platz gebaut und gleichfalls an der Voss-, Wilhelm- und Leipziger Straße. Was hier auf einer Geschossfläche von 21 Hektar entsteht, ist mehr als nur ein Lückenschluss in der Barockform des achteckigen Platzes, des „Octogons“. Das Leipziger Platz Quartier der High Gain House Investment GmbH (HGHI) des Unternehmers Harald G. Huth ist ein Brückenschlag zwischen den vier Himmelsrichtungen. Vom Westen werden die Besucher das Quartier auf ihrem Weg in den Osten zum Gendarmenmarkt passieren, vom Norden kommen sie vom Holocaust-Mahnmal direkt in die Piazza hereinmarschiert, motiviert vom durchscheinenden Portal des ehemaligen Preußischen Herrenhauses, das das Bundesratsgebäude einmal war. Im Herbst, sagt ein Bauarbeiter, könnte es mit dem Flanieren und Konsumieren losgehen, wobei die Eröffnung eigentlich schon diesen Frühling geplant war.
Neues Leipziger Platz Quartier: fast fertig, Blick vom Kollhoff-Tower auf auf die Dächer der Gebäude an Leipziger Straße und Vossstraße, Juni 2004
„Shopping is coming home”, verkündet der Bauherr an den Bauzäunen und schlägt eine Brücke auch von der Historie in die Gegenwart. Das Leipziger Platz Quartier wird in der Hauptsache ein Einkaufszentrum mit 270 Läden auf 76.000 Quadratmeter Verkaufsfläche. “Wir erinnern in unserem Projekt an das alte Wertheim-Warenhaus”, sagt Huth. Mittendrin wird es aber auch ein Hotel geben. Drumherum und obendrauf entstehen 175 Townhouses und Apartments, auch Büros, wie im alten Vosspalais. Das denkmalgeschützte Palais mit der roten Sandsteinfassade ist die authentische Perle in dem Projekt, 130 Jahre alt und das einzige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert weit und breit. Geschäfte des gehobenen Einzelhandels sollen hier einziehen, von wo aus man einst auf die 420 Meter lange Fassade von Hitlers neuer Reichskanzlei blickte. Die Vossstraße im Norden des Shopping-Districts ist eine historisch brisante Gegend. Aber das kann man von der Wilhelmstraße im Osten des Quartiers genauso sagen. Immerhin ist die Hauptstraße des alten Regierungsviertels heute eine “Geschichtsmeile”. Der interessierte Flaneur durchzieht sie und durchliest sie von Unter den Linden kommend auf seinem Weg zur “Topografie des Terrors”. Es ist davon auszugehen, dass die Meile ihre Spaziergänger Ecke Vossstraße kraft des Konsums verlieren wird. Denn “Shopping is coming home”.
Harald G. Huth investiert dafür etwa 800 Millionen Euro. Nach Angaben von HGHI sind mindestens 95 Prozent der Flächen vermietet. Einziehen werden die einschlägigen Marken, die man auch andernorts kennt, zum Beispiel aus den Potsdamer Platz Arkaden. 45 Handelsketten, die heute schon im benachbarten Shopping-Center an der Alten Potsdamer Straße zu finden sind, werden ihr zweites Standbein im Leipziger Platz Quartier errichten, schreibt der Tagesspiegel, darunter H&M, Esprit und Zara. Der Elektronikfachmarkt Saturn entscheidet sich sogar komplett für den Leipziger Platz und damit für ein fast doppelt so großes Einkaufszentrum. Die 40.000 Quadratmeter umfassenden Arkaden bekommen eine große Schwester.
Alfred-Messel-Bau: schlanke Granitpfeiler in Warenhausfassade am Leipziger Platz, 1920er Jahre
Erstaunlich, dass beide Shopping-Center zusammen fast auf die 108.000 Quadratmeter kommen, die der Nutzfläche ihres Ahnen, des Warenhauses Wertheim entsprachen. Es hatte eine Schaufensterfront von 330 Meter Länge. Alfred Messel hatte es ab 1897 gebaut. Schlanke, durchlaufende Granitpfeiler strebten in der Hauptfassade des Hauses bis unter die Traufe. Sie prägten das Stadtbild am Leipziger Platz. Messel baute oft für Wertheim. Einziges Zeugnis dessen steht heute in der Rosenthaler Straße in Mitte. Dort blickt man auf die kunstvoll detaillierte, denkmalgeschützte Pfeilerfassade des Warenhauses Wertheim, das Messel dort 1903 baute.
Das neue Leipziger Platz Quartier ist eine Schöpfung der Architektengemeinschaft NPS Tchoban Voss/Architekturbüro Pechtold, die mehr als ein einzelnes Gebäude entwirft. Das Einkaufszentrum, das Hotel, die Büros und die Wohnungen fügen sich ins Format der traditionellen Berliner Blockrandbebauung ein. Betrachtet man die Piazza als Straße, entstehen zwei Blöcke mit begrünten Innenhöfen und mit Gebäudehöhen, die sich an der Berliner Traufhöhe von 22 Meter orientieren – so hoch war auch der Lichthof von “Frau Wertheim”.
Leipziger Platz, Juni 2014: barockes „Octogon“ beinahe wiederhergestellt
Es gibt am Leipziger Platz bald eine Lücke weniger, und das barocke “Octogon” mit seinen acht Platzecken tritt wieder hervor. Eine Wunde heilt. Oder mit den Worten des Stadtplaners Dieter Hoffmann-Axthelm gesagt: Das “Widerlager” für das “Westberliner Triumphtor” entsteht, womit er die Hochhäuser des Potsdamer Platzes meint.
An die Berliner Mauer, die den Platz überquerte, wird im Quartier nichts erinnern. Sechs Teile von ihr stehen ja auch direkt auf dem Platz, und wer mehr davon will, der findet in der Erna-Berger-Straße einen “Rundblickbeobachtungsturm” vom Typ BT6, zu dem ein Durchgang am Dalimuseum führt.
Der „Alte Dessauer“ treibt sie alle in die Shopping-Mall, und zwar im Gleichschritt! Der hat schon ganz andere unter ganz anderen Bedingungen ganz woanders hochgejagt.
Eine Statue gibt es dann doch noch, die für das Quartier von Bedeutung sein könnte: Auf dem Weg zur Friedrichstraße treffen die Shoppenden am Zietenplatz auf Fürst Leopold von Dessau. Er ist im Gegensatz zu „Frau Wertheim“ nicht aus Kupfer, sondern Bronze und hält keinen Warenkorb, sondern die Hand am Säbel. Vom “Alten Dessauer” erzählt der Historiker Siegfried Fischer-Fabian, dass der General in Kesselsdorf im Krieg für Friedrich den Großen “mit seinen Männern einen eisbedeckten Hang hinauf gegen eine aus 34 Geschützen bestehende sächsische Batterie anstürmte”. Er hat auch den Gleichschritt eingeführt. – Man nehme sich also in Acht und gehorche auch den tieferliegenden Gesetzen des Ortes, marschiere in die neue Piazza ein und kaufe, kaufe, kaufe.
(Artikel erschienen auch in: Berlin vis à vis, Nr. 56, Herbst 2013, allerdings leicht verändert)