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Lüschers Steg

Der Golda-Meir-Steg führt vom Kieler Eck über den Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal in die Europacity hinüber. Die Fußgänger- und Radfahrerbrücke trägt den Namen einer israelischen Ministerpräsidentin und wurde am 8. Dezember 2021 anlässlich ihres Todestages eröffnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte Regula Lüscher Berlin bereits verlassen. Im Sommer hatte die Ex-Senatsbaudirektorin sich nach 14 Jahren aus ihrem Amt verabschiedet. Zuvor posierte sie an dem Steg. In ihrem Werkschau-Film „Bauen für Menschen“ steht Lüscher am Kanalufer, gekleidet in einen frühlingshaften Mantel, der auf phänomenale Weise die Farbe des Stegs aufnimmt, eine Mischung aus Ocker, Olivgrün und einem Goldgelb, das der Mantel aus dem Hintergrund nach vorne holt, in der Bildfläche aufweitet, verstärkt und mit weiteren Bildelementen, dem Gelb eines Baukrans, dem Rotblond der eigenen Frisur, ja sogar mit Lüschers Brille verschmilzt und als eine Art Gemeinwesen erkennbar macht. So resümiert die Architektin die eigene Ära.

Goldener Steg: Auf der Westseite des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals sind neue Wohnbauten der Europacity zu sehen

Mir gefällt das. Mir gefällt auch, wenn jemand einen Ort abfotografiert, bevor er oder sie über ihn redet. Regula Lüscher hat das 2009 getan, als sie die Debatte ums Rathausforum einleitete. Ich mochte auch ihren kühlen Kopf. Eine Lüscher, die laut wurde, habe ich nirgends erlebt. Ich mochte auch den Dialekt, mit dem sie sprach. Lüschers Schweizerisch hatte etwas Unterhaltsames. Es erfrischte. Wörter wie „Detail oder „Beton“, bei denen sie die erste Silbe betonte statt der zweiten, besaßen einen technischen Effekt. Sie werden mir fehlen, wenn ich bei Diskussionsveranstaltungen einzuschlafen drohe.

Früher Turmrummel und Weite

Der Steg steht für die Epoche Lüschers. Es gab ihn nicht, als sie 2007 nach Berlin kam. Wohl aber den Mann am Turm. Bei Sonne auf einem Gartenstuhl, bei Regen in seinem Auto, saß Jürgen Litfin täglich am Kieler Eck und wartete auf Besucher. Der Mauerzeitzeuge, dessen Bruder Günter 1961 als erster Berliner an der Sektorengrenze erschossen wurde, schimpfte in der mit eigener Hand aufgebauten Gedenkstätte, dass die Wände wackelten. Da war Leben in der Bude, während sich auf dem Westufer des Kanals noch die unbebaute Weite eines ehemaligen, in Vergessenheit geratenen Bahngeländes aus der Vorkriegzeit auftat. Kein Gast wusste, wo er war. Der Blick ging frei nach Moabit bis zum Poststadion, unterbrochen nur durch die Heidestraße, auf der erkennbar Autos fuhren, und durch die Bahntrasse, auf der ICE-Züge in den Tunnel zum Hauptbahnhof eintauchten. Das Beben im Turm ist seit 2018 vorbei. Jürgen Litfin ruht auf dem Domfriedhof an der nicht weit entfernten Liesenstraße. Die Europacity ist aber zum Leben erwacht, als hätte der Golda-Meir-Steg vor Ort die Ladungen vertauscht.

Europacity, Heidestraße

Aussicht auf die „Mondlandschaft“ Heidestraße vom 16. Stock des Total-Towers, Herbst 2012 (Foto: André Franke)

Die Europacity, sollte es sich bei dem neuen Stadtteil wirklich um gebautes Leben handeln, fristet 2022 ein Dasein, das einem Menschen in Quarantäne gleicht. Sie kommt nicht aus sich heraus. Als stünde da ein Kranker kraftlos am Fenster. Es genügt, ihm vom gegenüberliegenden Bürgersteig zuzuwinken. Dann fahren wir fort. „Es ist ein grauenvoller Ort“, sagt Architekt Hans Kollhoff. Die ehrliche Erbostheit des Mannes in einem Interview der Veranstaltungsreihe „Unvollendete Metropole“ rüttelt in mir großes Bedenken wach.

  1. Kann der Bau schlechter Stadt als moralisches Verbrechen gelten?
  2. Kann ein gutes Urteil über eine schlechte Stadt Verrat am Berufsstand sein?
  3. Wann wird guter Städtebau ein Menschenrecht?

Tatsächlich kenne ich niemanden, der von der Europacity sagte, sie sei doch ganz schön geworden. Kollhoff zu diesem Geschmack:

„Das kann nur jemand sagen, der vollkommen abgestumpft ist. Wo die Abstumpfung ein Niveau erreicht hat, dass eigentlich in der Gesellschaft wie der unseren nicht zulässig sein sollte.“

Das sagt der Architekt über die Architektin (in Minute 16 und 17 eines Interviews, siehe unten).

Positiv gelesen, stecken darin zwei Botschaften: Städtebau ist kein Zuckerschlecken und Kollhoff kann es besser. Auch die Frage: Warum hat keiner Lüscher früher in den Ruhestand versetzt?

Alter Grenzturm, neue Kanalbrücke. Jürgen Litfin erlebte das nicht

Die betonlenkende Architektin mit dem Sinn fürs Detail leitete Berlins Senatsbaudirektion unter fünf verschiedenen Stadtentwicklungssenatoren und -Senatorinnen: Ingeborg Junge-Reyer (SPD), Michael Müller (SPD), Andreas Geisel (SPD), Katrin Lompscher (Linke) und Sebastian Scheel (Linke). Lüschers Steg in Berlin – im Sinne eines Karriereweges von 2007 bis 2021 – gelangte zu einer bemerkenswerten Länge. Länger hatte das Amt nur Hans Christian Müller von 1967 bis 1982 in Berlin-West inne.

Im Bürogebäude in George-Stephenson-Straße spiegelt sich der Blick zur Lehrter Straße in Moabit

Kahlfeldts Chance

In der Europacity steht der Bau eines zweiten Stegs aus. Er ist, ebenfalls als Fuß- und Radverkehrsbrücke, jenseits der Heidestraße geplant, um die Bahntrasse zu überwinden. Dann wird der Stadtteil an die Lehrter Straße in Moabit angeschlossen und die ganze Europacity bekommt eine Ost-West-Durchquerung. Es wird der Steg der Petra Kahlfeldt sein, Berlins neuer Senatsbaudirektorin. Aber das ist schon eine Formulierung, die in die Irre führt. An der Europacity wird Berlin Kahlfeldts Wirken nicht messen. Oder etwa doch? Bestandsentwicklung soll Kahlfeldts Stärke sein.


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Moabit: Die Insel umrunden!

Als ich vor ein paar Wochen bei der Jahrespressekonferenz des Zentrums für Kunst und Urbanistik in Moabit war, führte man uns durch das Gebäude und durch einen langen Flur im Obergeschoss, von dem die Studios der Künstler abgingen, die zeitweise dort als sogenannte „Residents“ leben. Dort sah ich im Flur eine selbst gemalte Karte von Moabit hängen, überschrieben mit „Die Insel“. In dem Moment wurde mir zum ersten Mal klar, dass dieser Berliner Stadtteil von ALLEN Seiten von Wasser umgeben ist. Auf welchen anderen trifft das noch zu? Ich glaube, keinen. (Doch, die Mierendorff-Insel, gleich nebenan in Charlottenburg. Aber vergessen wir die mal gerade.)

INSEL TO GO

Von einer Sekunde auf die andere gewann Moabit für mich eine Art neue Farbe. Sagen wir, blau. Denn mit der Spree im Süden, dem Charlottenburger Verbindungskanal im Westen, dem Westhafenkanal im Norden und dem Spandauer Schifffahrtskanal im Osten könnte man Moabit auf seinen Gewässergrenzen potenziell umschwimmen. Leider verboten. Ein Stadtteil, der sich über das Wasser definiert, müsste aber eines unbedingt haben: offene Ufer. Kann man Moabit an den Ufern umrunden? Die Frage wird mein Leitmotiv für eine Tour, die ich am Sonntag für A. und O. aus München mache.

Blick vom Nordhafen nach Süden in den Spandauer Schifffahrtskanal (Foto: André Franke)

Da wir im östlichen Bereich der Perleberger Straße starten, ginge es erstmal in Richtung Nordhafen und Spandauer Schifffahrtskanal. Hier begegnet und das Dilemma, dass die Europacity ja noch nicht fertig ist und mit ihr der Uferweg entlang der Westseite des Kanals nicht (der kommt aber!). Das heißt, wir müssten „die Insel“ schon zu Beginn verlassen, über die Kieler Brücke (von der das Foto aufgenommen ist, siehe oben) aufs „Festland“ (Alt-Bezirk Mitte) rüber und den Mauerweg runter bis zum Humboldthafen fahren. Kann man natürlich machen, aber O. und A. kennen die Strecke wohl schon. Deshalb wäre es spannender, von der Perleberger in die Lehrter Straße einzubiegen und mal zu gucken, wie das dort neugebaute, gleichnamige Stadtquartier aus direkter Nähe aussieht. Man sieht es ja sonst nur von der anderen Seite, von der Gedenkstätte Günter Litfin und dem Invalidenfriedhof aus.

Die Lehrter Straße hat aber seit letzter Woche auch den (1) neuen, nachgemalten „Weltbaum“, das Wandbild, dessen Original von Ben Wagin am S-Bahnhof Tiergarten bald durch einen Neubau aus dem Stadtbild gedrückt wird. Das (2) Zellengefängnis mit seinem Geschichtspark am Ende der Lehrter ist auch ein schönes, besinnliches Etappenziel, bevor wir an der Moltkebrücke zur „Hauptstadtspree“ gelangen.

Moabit heißt auch Hauptstadt

Entlang der Spree gäbe es natürlich viel zu zeigen, oft zu stoppen, aber da muss eine Auswahl erfolgen. Die Sachen, die mich hier reizen, sind: das (3) Moabiter Werder mit historischer Pulvermühle, Bundesschlange und vom tiergarten-inspirierten Eibenbüschen, die (4) Gedenkpromenade am verglasten „Spreebogen“-Bürokomplex, den Pizzakönig Ernst Freiberger erschuf, das auf der dem anderen Ufer liegende (5) Hansaviertel und die (6) Erlöserkirche in ihrer märkischen Backsteingotik und dem ihr eigenes Kirchenschiff überragenden, benachbarten Gemeindehaus.

Jenseits der Gotzkowskybrücke ist der Uferweg unterbrochen. Jetzt könnten wir a) über die Brücke auf das Südufer wechseln (wieder „die Insel“ verlassend), müssten dann aber großräumig das Spreekreuz umfahren, was bedeuten würde, Moabit für – aus meiner Sicht – zu lange Zeit zu verlassen; oder wir könnten b) auf der Nordseite der Spree bleiben und ein paar Hundert Meter über die Kaiserin-Augusta-Allee radeln, dann zurück zum Ufer kommen, ein kurzes Stück weiter am Wasser entlangfahren, um dann aber einen ABSTECHER NACH NORDEN (und damit ins „Inselinnere“) in die Reuchlinstraße zu machen (mit dem Ziel, die (7) Turbinenhalle in der Huttenstraße zu besuchen). Damit weichen wir zwar von der konsequenten Inselumrundung ab. Aber den Gebäudekomplex mit den alten Spreespeichern müsste man sowieso umfahren. Warum also nicht einen Block mehr Strecke machen, um Peter Behrens zu huldigen? Architektur verpflichtet.

Die Ausnahme bestätigt die Regel. Über die Wiebestraße gelangen wir nach Süden zum Wasser zurück, in den Fitnesspark an der Spree. Von hier aus werfen wir einen weiten Blick auf die andere Spreeseite, wo Kleihues+Kleihues Architekten sich in die (8) alte Müllverladestation eingemietet haben. Wir fahren die „Moabiter Landzunge“ aus (eigene Namensschöpfung) und folgen von hier an dem Charlottenburger Verbindungskanal nach Norden, wo nach ein paar hundert Metern eine (9) urst lange Rampe erscheint. Sie steigt aus dem Kanal heraus und führt aufwärts zur Huttenstraße oder eben umgekehrt, der Verkehr rollt die Rampe hinab. Die Gasturbinen aus dem nahe gelegenen Siemenswerk werden hier auf die Wasserstraße verladen, nachdem sie nur eine sehr kurze Strecke auf der Straße transportiert werden müssen. Auch wegen dieser Rampe macht der Besuch bei Behrens Sinn.

Wasser heißt „Happy City!“

Es geht weiter nach Norden. Der (10) Berliner Großmarkt kommt. Das Riesen-Areal tangiert sowohl den Verbindungskanal, als auch den Westhafenkanal. Ein interner Gehweg führt am äußeren Rand des Geländes entlang. Der News Ride #16/18 hat bewiesen, dass man ihn radeln kann. Man muss nur wissen, wo man ins Gelände „einsteigt“. Das heißt, wir radeln und blicken weiterhin aufs Wasser! An dieser Stelle möchte ich eine Anmerkung von Annette Ahme einflechten, der Vorsitzenden des Vereins Berliner Historische Mitte. Im März verwies sie in einer Mitteilung auf das Potenzial der Wasserlagen in Berlin. Es gäbe Studien, sagt sie, die bewiesen, dass allein der Blick auf das Wasser für den Menschen heilsam sei, und die Gewässer böten allgemeine, automatische Orientierung, ganz nebenbei. Sie schreibt:

Wenn alle Ufer für Fußgänger und Fahrradfahrer tauglich ausgebaut wären, bräuchte man fast keine zusätzlichen überörtlichen Verbindungen. Und nutzt dabei den Sondervorteil, dass der Wegenutzer vom Gewässer eigenständig geführt wird, also wenig weitere Orientierungs-Hilfsmittel braucht. Der Lohn ist eine auf breiter Front wachsende Gesundheit der Bewohner – das könnte man jetzt in Geld umrechnen, wenn man Volkswirtschaftler wäre.

Oben, auf der Brücke, kommen wir mit einem mächtigen Blick auf den (11) Westhafen an der Beusselstraße raus und überqueren die Brücke über den Westhafenkanal. Dann geht´s nach rechts über die Seestraße, plus Brücke (es gibt einen Radweg parallel) zum: Nordufer, das ja auch einer der „20 Hauptwege durch Berlin“ ist, nämlich der 3er. Radeltechnisch ist das ein Sahnehäubchen. Die Alternative (auf der „Insel“ bleibend) wäre hier der Ritt durch das Hafengelände, wenn man´s mal intensiver wissen will. Wir BEgnügen uns und VERgnügen uns mit der großräumigen, bewegten Ansicht von außen (Container, Wasser, Speichergebäude) bis uns das Nordufer an die Fennbrücke bringt, wo wir drüber fahren, wieder rein „auf die Insel“.

Die Insel, Asha Bee Abraham in Zusammenarbeit mit Ana Tiquia (ZK/U)

Über die Quitzowstraße und Ellen-Epstein-Straße nehmen wir noch den (12) Gedenkort Güterbahnhof Moabit mit und, wenn Zeit bleibt, das (13) Zentrum für Kunst und Urbanistik in der Siemensstraße. Beides liegt auf dem Weg ins Café „Arema“, unserer geplanten Destination.


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