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Stutti ist Premium

Ich habe ein kleines Heft. Das nennt sich „Planungsrundschau“ und stammt noch aus meinen Studienzeiten. Und es gibt einen Ort in Berlin, der mich immer wieder an dieses Heftchen denken lässt (A5-Format, 118 Seiten): der Stutti. Immer wenn ich hier bin, fällt mir der Artikel von Ursula Flecken und Juliane Martinius ein, in dem die Stadtplanerinnen fragen:

„Wer macht hier eigentlich Stadtplanung? – Ist es die Deutsche Bahn (…), der Investor (…), die Baustadträtin (…), die planende Verwaltung (…), der Architekt (…), das Planungsbüro (…), die Bürgerinitiative (…), das Land Berlin (…), der Bezirk Wilmersdorf (…), die Öffentlichkeit (…)?“

Übern Stutti gestolpert, ins Regal gegriffen

Jetzt komme ich am Stutti vorbei und sehe, er sieht aus wie immer, wie vor Jahren. Es scheint gar nichts passiert zu sein. Richtung Windscheidtstraße, wo ich zum Törtchen-Essen eingeladen bin, bleib ich stehen und wundere mich über die Brache am Wegesrand. Brache? Ein Schild weist darauf hin, dass es sich um eine Grünanlage handelt. Muss wohl am Winter liegen, der das Grüne grau macht. Aus dem kritisierten Bauprojekt ist offenbar nichts geworden.

Verwilderter Stutti, Januar 2017 - aber zumindest „geschützt“ (Foto: André Franke)

Verwilderter Stutti, Januar 2017 – aber zumindest „geschützt“ (Foto: André Franke)

Die Planungsrundschau berichtete in ihrer damals ersten Ausgabe von 2001 (hier online) von dem Projekt eines Investors, der am Stuttgarter Platz auf 560 Meter Länge eine Riegelbebauung mit großflächigem Einzelhandel und einem 19-geschossigen Hotelhochhaus plante. Der Stutti wäre zugebaut und oberirdisch durch die Zufahrten einer Tiefgarage zerschnitten worden. Auslöser für das Projekt war (und jetzt wird´s spannend): die Deutsche Bahn wollte den S-Bahnhof Charlottenburg mit dem etwas entfernter liegenden U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße zusammenlegen und die freiwerdende Fläche am Stutti verkaufen. Das Umsteigen sollte „besser“ werden. Klingt ja auch irgendwie richtig, im ersten Moment, den öffentlichen Verkehr dadurch zu stärken, den Leuten ein paar Minuten mehr Zeit zu schenken. Minuten … mehr Zeit …

Der Stutti – ein Geschenk

Die beiden Autorinnen forderten im Artikel weniger Baumasse, mehr Freiraum und Stadtqualität, auch eine bessere Bürgerbeteiligung – aber darauf will ich hier gar nicht hinaus. Sondern ich frage mich, warum die Bahnhof-Fusion überhaupt stattfinden muss (ich glaube, sie ist heute längst nicht mehr geplant). 400 Meter von A nach B laufen (zu müssen), ist grundsätzlich gut. Gut für den Mensch! Gut für den Großstadtmensch. Wir müssen das Laufen wieder lernen. Sicher spart Zeit, wer flüssig mit den Öffentlichen unterwegs ist. Wir leben aber heute in einer Zeit, in der jede körperliche Bewegung zählt, auch wenn sie im Alltag einen konkreten Zweck hat (kann schon mal passieren, muss nicht gleich Sport sein), weil sie uns ganz einfach gesund hält (10.000 Schritte soll der Mensch am Tag machen, sagt der Fußverkehr-Verband). Ich bin neulich mit Freunden bei meinem Birthday-Walk 27 Kilometer durch Berlin gelaufen (anvisiert hatten wir 40), von morgens um acht Uhr bis abends um sieben (dazwischen die Mahlzeiten). Was sind da 400 Meter noch? Seitdem gehe ich lieber mal eine Station zu Fuß, um wenigstens ein bisschen im Gang zu bleiben. Jeder Weg ist ein Geschenk. So gesehen ist es auch der Stutti.

Westlicher Stuttgarter Platz 2017 - sieht eigentlich ganz schön aus, aus dieser Perspektive jedenfalls (Foto: André Franke)

Westlicher Stuttgarter Platz 2017 – sieht eigentlich ganz schön aus, aus dieser Perspektive jedenfalls (Foto: André Franke)

Was für ein Potenzial der Stuttgarter Platz doch hätte, würde man die Strecke zwischen S- und U-Bahnhof den Fußgängern so einrichten, dass es für sie das Highlight ihres (Arbeits-)Weges, das Highlight des Tages würde, ein Fest für alle Stadtreisenden! In Aachen wird gerade im Auftrag des Bauministeriums im Rahmen des Modellprojekts „Aktive Mobilität in städtischen Quartieren“ eine Premiumroute für den Fußverkehr geschaffen (bbsr.bund.de, aachener-nachrichten.de). „Premiumroute“ hört sich schon mal gut an.

Begegnungszone Maaßenstraße

Könige der Begegnungszone – die Schöneberger Maaßenstraße muss man feiern

Begegnungszone Maaßenstraße

Begegnungszone Maaßenstraße: braun = zukünftiger Fußgängerbereich (Quelle: Flyer SenStadtUm)

Wenn in der Maaßenstraße in Schöneberg bald Berlins erste „Begegnungszone“ kommt, wird es bestimmt Pilger geben, die sich auf den Weg dorthin machen, um diesen extravaganten Straßenraum, Stadtraum einmal Meter für Meter abzuschreiten. Und mögen sie auch mit dem Fahrrad anreisen oder mit dem Auto – ich gebe Euch Brief und Siegel darauf, dass die Versuchung ihnen nahe wie selten liegen wird, das Vehikel am Nollendorf- oder am Winterfeldtplatz abzustellen, um ein paar gezielte Schritte zu machen. Denn der Fußgänger ist in der „B-Zone“ König. Er bekommt den meisten Platz, den größten Raum. Radfahrer teilen sich die verengte Straße mit den Autos, die maximal 20 km/h fahren dürfen. Eine reine Fußgängerzone wird die Maaßenstraße also nicht. Sondern ein Ort für alle. Die Bergmannstraße in Kreuzberg und den Checkpoint-Charlie erwartet nach Plänen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung das gleiche Schicksal, welches selbstverständlich alles andere als zu beklagen ist!

Vom Boulevard zur Begegnungszone

In der Berliner Zeitung war dennoch vor kurzem im einen Interview zu lesen, an welchen weiteren Orten in Berlin das neue Raumformat Schule machen könnte und nach Ansicht von Stefan Lieb, Geschäftsführer des FUSS e.V. Deutschlands, Schule machen m ü s s t e: Er fordert Begegnungszonen auch vor den Hackeschen Höfen und im östlichen Teil der Oranienburger Straße, traut sich also „König Fußgänger“ sogar auf die Tram loszulassen; er fordert, Unter den Linden nach den U5-Bauarbeiten wieder zum wahren Boulevard zu machen, indem Begegnungszonen die Auto-Straßenquerungen überbrücken; drittens fordert er eine „mehrere hundert Meter“ lange Begegnungszone zwischen der Humboldt-Universität und dem Berliner Schloss, womit im Grunde der gesamte Boulevard vom Lustgarten bis zum Brandenburger Tor durchgängig flanierbar wäre. Echt königlich! Wer dann nicht spaziert, der ist doof.

Zehntausend Schritte am Tag solle man machen, sagt Stefan Lieb. Das sind sechs bis sieben Kilometer. Er plant mit dem FUSS e.V. (das steht nicht im Artikel) auch einen „GEH-SUNDHEITSPFAD“ durch Berlin. Dieser soll insbesondere an der Charité vorbeiführen, von wo aus Kranke aus dem Therapiezentrum auf den Weg in die Gesundung geschickt werden.

TIPP: Wem das Gelaufe zu physiologisch ist und zu wenig mental-philosophisch, der wird Freude haben an einer kürzlich ausgestrahlten, aber Dank des Internets für die nähere Ewigkeit gespeicherte Serie bei Deutschlandfunk über die „Spaziergangswissenschaft“ oder Promenadologie und ihres Begründers Lucius Burckhardt. Das macht Lust zu Laufen, auch außerhalb der Zone.

Begegnungszone Maaßenstraße

Begegnungszone Maaßenstraße: maximal 20 km/h für Autos und Radfahrer (Quelle: Flyer SenStadtUm)

Wer pilgert mit?

Ich werde mich ihr, der Zone Maaßenstraße, wenn der Zeitpunkt ihrer Eröffnung gekommen ist, als (wie oben prognostiziert) Pilger nähern! Das habe ich beim Schreiben dieses Beitrags beschlossen. Vom Alex, Weltzeituhr, werde ich zu Fuß zum Nolle gehen. Wer kommt mit? Die Ankündigung des Events erfolgt auf diesem Blog. Warmgelaufen und mit gesundem Appetit wird die Begegnungzone Maaßenstraße dann meine wohlverdiente Schlussmeile sein und mich runterbringen – von den Füßen aufs Sitzfleisch. Und dann wird gespeist im Eldorado zonierter Gastronomie (denn wie ja vielleicht bekannt ist, wird das hohe Kneipenaufkommen in der Maaßenstraße vom Bezirk mittlerweile reglementiert).


Hier die Reihe „Querfeldein Denken mit Lucius Burckhardt“ auf Deutschlandfunk

Und hier das Interview mit Stefan Lieb in der Berliner Zeitung