Der Mann und der Turm
Hinter der Kapelle gehen wir rechts, dann links. Fast am Ende des Weges, wo der Friedhof auf die Mietshäuser der Pflugstraße trifft, liegt rechts eine Reihe von Urnengräbern. Auf einem davon sitzt ein runder Findling, der Grabstein von Jürgen Litfin. Zwei Fußsohlen sind auf der grauen Oberfläche in Violett gemalt. Zwei Jahreszahlen grenzen sein Leben ein: 1940, 2018. Wann genau war er eigentlich gestorben? Eine Meldung der Berliner Woche verrät, dass es der 19. Oktober war. Ich wechsle die Blumen, bringe frisches Wasser. Auf der Bank sitzen die Gäste und reichen sich Jürgens Buch durch die Hände „Tod durch fremde Hand“. Ich hatte es für sie aus dem Rucksack geholt. Jürgen Litfin beschreibt darin, wie er aus dem Grenzturm am Spandauer Schifffahrtskanal eine Gedenkstätte machte. Ein Gast, der Jürgen kannte, weil er oft zum Bundeswehrkrankenhaus in die Scharnhorststraße ging, ist überrascht, dass der Mann vom Turm jetzt tot ist. Er hat es nicht erfahren. Dabei ist fast ein Jahr vergangen.
Der Besuch des Friedhofs war eine Station auf einem Spaziergang, den ich am Sonnabend für die Stadtteilkoordination Brunnenstraße Süd führte. Die Tour musste ohne den Turm auskommen, denn er lag zu weit von der Strecke entfernt, Jürgens Grab dagegen nicht.
Und das war unser Weg: Durch den (1) Park am Nordbahnhof, zu den (2) Liesenbrücken, über die (3) Dom-Friedhöfe, von hinten an (4) „The Garden Living“ vorbei (hier hatte mich vor Jahren beinahe ein Hund ins Bein gebissen: lies hier), durch das (5) „Kaninchenfeld“ an der Chausseestraße, über die Wöhlert- und Pflugstraße in die (6) „Feuerlandhöfe“, auf die Chausseestraße raus zum (7) BND, (8) Libeskinds „Sapphire“ im Rücken, vorbei am (9) besetzten Haus in der Habersaathstraße, vorbei am (10) Ballhaus mit dem „Alt-Berlin“, rein in die Zinnowitzer Straße, vorbei am Holzhaus der neuen (11) Schauspielschule „Ernst Busch“, vorbei am (12) „Kleinen Stettiner“, dem backsteinernen Vorortbahnhof und rüber auf den Platz am alten (13) Stettiner Bahnhof an der Invalidenstraße.
Action im Tunnel
Als wir an die schrottreifen Liesenbrücken kamen, war die Treppe runter zur Gartenstraße gesperrt. Ein laminiertes A4-Blatt ohne irgendwelche Zeichen von Behördenautorität hing schief an einem hüfthohen, festgeketteten Gitter. Aber einen Schreibfehler wies das Schild auf: „Dieser Eingang ist wegen einer Unfallgefahr vorübergehend gesperrt!“ Wer hat sich den Scherz erlaubt? Wir waren nicht die einzigen, die den Weg zurück bis zur Rampe gehen mussten. Wie oft im Leben, entpuppte sich das Ärgernis aber als Bereicherung: Am Ausgang des Parks befindet sich der Eingang zum Fußgängertunnel, der früher unter dem Bahnhofsgelände hindurchführte. Ein Metalltor versperrte den Leuten den Weg hinein. Hier tummelten sich ein paar Jugendliche. „Wir waren drin“, sagten sie. Glaubten wir nicht. Da zeigten sie uns, wie sie sich zwischen Tor und Backsteinportal durchzwängten. Und auf einmal war am Tunnel richtig viel los. Mal sehen wielange das Bezirksamt braucht, um „eine“ Unfallgefahr auch hier erfolgreich zu unterbinden. Eine schöne Überraschung war das jedenfalls! Ohne die gesperrte Treppe hätten wir den Tunnel nicht gesehen, und die Tunnelgeschichten der Kids nicht gehört.