Annemieke sucht die Freiräume Berlins und landet im „Open Space“ des Tempelhofer Feldes

Mitten im Winter fahr ich selten aufs Feld. Aber Annemieke Bosschaart hat mir dafür einen Grund gegeben. Die Journalistik-Studentin aus den Niederlanden suchte nach den Freiräumen Berlins und nach Erklärungen, warum es sie gibt. In ihrer Radio-Reportage „Open Spaces in Berlin“ macht sie eine Tour mit mir, die auf dem offensten, freiesten, negativsten, wildesten, unberechenbarsten und unstädtischsten Flecken Berlins endete. Sie hätte vielleicht hier, auf dem Tempelhofer Feld, beginnen sollen …

Wir trafen uns aber am Alexanderplatz. Ich wollte Annemieke zuerst das riesige Rathausforum zeigen. Kein Freiraum liegt zentraler und keiner ist trügerischer in dem Sinne, dass Berlins Historie drunterliegt. Auf dem Weg zu den Stadtmodellen am Köllnischen Park kamen wir am Schloss vorbei. Ich hatte es nicht als Tourinhalt geplant, doch es drängte sich uns ganz von selber auf, und Annemieke fand Interesse an dessen Geschichte, obwohl der Schlossplatz ja kein klassischer Freiraum (mehr) ist. Jede Baustelle steht für einen vergangenen Freiraum.

Eine Freiraum-Tour startet am Rathausforum, das die Presse wegen seiner Ausmaße gerne mal mit Pjöngjang vergleicht

Das ließ sich gut erkennen als wir wenig später vor dem Stadtmodell standen, das im Maßstab 1:500 zeigt, was wo in Berlins City Ost seit 1990 gebaut und geplant wurde. Aber hier, im Foyer der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, sprachen wir besonders über die Ursachen, warum Berlin heute immer noch so frei, grün und bunt ist. Und dieser Fokus war auch für mich selbst bereichernd. Denn bis auf die Konversion ehemaliger Bahnflächen lässt sich die Existenz der Freiräume letztlich auf die Kriegszerstörungen und die spezielle Teilungsgeschichte der Stadt zurückführen.

Vielfältige Ursachen

Die Europacity, das RAW-Gelände, die Güterbahnhöfe Wilmersdorf und Greifwalder Straße, der Park am Gleisdreieck oder das „Pankower Tor“ sind allesamt Areale der Bahn gewesen. Die Prinzessinnengärten (hiermal stellvertretend für zahlreiche Berliner Kreativ-Oasen) haben sich auf einer kriegsproduzierten Baulücke am Moritzplatz entwickelt. Der Mauerpark, der teilweise auch eine Bahngeschichte hat, und die Wagenburg Lohmühle in Treptow sind auf dem 1990 frei gewordenen Grenzgelände der Mauer entstanden. Und Tempelhofer Feld wie Noch-Flughafen Tegel, Projekte der Extraklasse in der Berliner Stadtentwicklung, sind ein Segen der Sektorenstadt Berlin aus dem Kalten Krieg (und ihrem Ende selbstverständlich).

Pony-Reiten durch den Mauerpark. Nur im Freiraum möglich (Foto: André Franke)

Pony-Reiten durch den Mauerpark. Nur im Freiraum möglich (Foto: André Franke)

Gerade Tegel und Tempelhof als erlöste, zu erlösende Flughafenstandorte sprangen uns ins Auge als Annemieke und ich vor den Berlin-Karten standen. Das sind die „Open Spaces“ Berlins vom größten Kaliber. In diesem Moment schwant es Annemieke, dass ihr Wunschprojekt „RAW“, zu dem ich sie entlang der Spree führen wollte, an ihrem eigentlichen Thema vorbeizuschlittern drohte. So fragte sie mich unterwegs, ob wir raus aufs Feld fahren könnten. Und das taten wir, bogen zum S-Bahnhof Jannowitzbrücke ab, anstatt die Holzmarktstraße zur East Side Gallery rauszulaufen, und nahmen am Ostkreuz die Ringbahn.

Fenster zum Feld gibt es viele. Die S-Bahn bugsiert jeden Tag tausende auf der Ringbahn am größten Freiraum Berlins vorbei. Einsteigen lohnt sich

Treptower Park … Sonnenallee … Neukölln … Hermannstraße … und dann kam auf dem Weg zum S-Bahnhof Tempelhof endlich das „Fenster zum Feld“. Annemieke sah einen Freiraum wie sie ihn in einer Stadt noch niemals gesehen hatte. Diese halbe Minute Feld ist das dynamischste Stadtbild Berlins. Man fährt in hoher Geschwindigkeit (alternativ mit dem Auto auf der A100), doch nur langsam ändert sich, was man sieht. Fast statisch bleibt das Bild. Das macht einem die Größe dieses Ortes klar. Dann stiegen wir aus, überquerten den Tempelhofer Damm, gingen aufs Feld.

Freiraum der Extraklasse: das Tempelhofer Feld. Blick vom Neuköllner Schillerkiez nach Westen (Foto: André Franke)

Freiraum der Extraklasse: das Tempelhofer Feld. Blick vom Neuköllner Schillerkiez nach Westen (Foto: André Franke)

Schritt für Schritt wurde es leiser. Wir ließen den Straßenlärm hinter uns. Es war Montag, früher Nachmittag und kalt. Kaum Menschen. Alles ruhig. Alles offen. Wir liefen bis wir den Taxi-Way erreichten, und ich bestand darauf, weiter bis zur nördlichen Rollbahn zu gehen. Noch weiter weg von der Straße, noch weiter ins Zentrum rein. Von hier aus sahen wir bis zum Fernsehturm. Da hatte unsere Tour begonnen. Auf merkwürdige Weise hatten wir zwei Berliner Freiräume miteinander verbunden, der eine zentral, der andere peripher (zur Innenstadt). Allein der Blick zurück verband beide Orte.

Dann trennten sich unsere Wege. Ich lief zurück zur Ringbahn, fuhr in die Gegenrichtung, nochmal durchs Feldfenster gucken. Annemieke Bosschaart ging über die zwei Kilometer lange Rollbahn nach Neukölln. Ihre Suche nach dem Berliner Freiraum war zu Ende. Jetzt suchte sie wieder die Stadt.


Radio-Reportage „Open Spaces Berlin“ auf soundcloud.com

Artikel von Annemieke Bosschaart auf Campus-Blog (in Niederländisch)

Stutti ist Premium

Ich habe ein kleines Heft. Das nennt sich „Planungsrundschau“ und stammt noch aus meinen Studienzeiten. Und es gibt einen Ort in Berlin, der mich immer wieder an dieses Heftchen denken lässt (A5-Format, 118 Seiten): der Stutti. Immer wenn ich hier bin, fällt mir der Artikel von Ursula Flecken und Juliane Martinius ein, in dem die Stadtplanerinnen fragen:

„Wer macht hier eigentlich Stadtplanung? – Ist es die Deutsche Bahn (…), der Investor (…), die Baustadträtin (…), die planende Verwaltung (…), der Architekt (…), das Planungsbüro (…), die Bürgerinitiative (…), das Land Berlin (…), der Bezirk Wilmersdorf (…), die Öffentlichkeit (…)?“

Übern Stutti gestolpert, ins Regal gegriffen

Jetzt komme ich am Stutti vorbei und sehe, er sieht aus wie immer, wie vor Jahren. Es scheint gar nichts passiert zu sein. Richtung Windscheidtstraße, wo ich zum Törtchen-Essen eingeladen bin, bleib ich stehen und wundere mich über die Brache am Wegesrand. Brache? Ein Schild weist darauf hin, dass es sich um eine Grünanlage handelt. Muss wohl am Winter liegen, der das Grüne grau macht. Aus dem kritisierten Bauprojekt ist offenbar nichts geworden.

Verwilderter Stutti, Januar 2017 - aber zumindest „geschützt“ (Foto: André Franke)

Verwilderter Stutti, Januar 2017 – aber zumindest „geschützt“ (Foto: André Franke)

Die Planungsrundschau berichtete in ihrer damals ersten Ausgabe von 2001 (hier online) von dem Projekt eines Investors, der am Stuttgarter Platz auf 560 Meter Länge eine Riegelbebauung mit großflächigem Einzelhandel und einem 19-geschossigen Hotelhochhaus plante. Der Stutti wäre zugebaut und oberirdisch durch die Zufahrten einer Tiefgarage zerschnitten worden. Auslöser für das Projekt war (und jetzt wird´s spannend): die Deutsche Bahn wollte den S-Bahnhof Charlottenburg mit dem etwas entfernter liegenden U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße zusammenlegen und die freiwerdende Fläche am Stutti verkaufen. Das Umsteigen sollte „besser“ werden. Klingt ja auch irgendwie richtig, im ersten Moment, den öffentlichen Verkehr dadurch zu stärken, den Leuten ein paar Minuten mehr Zeit zu schenken. Minuten … mehr Zeit …

Der Stutti – ein Geschenk

Die beiden Autorinnen forderten im Artikel weniger Baumasse, mehr Freiraum und Stadtqualität, auch eine bessere Bürgerbeteiligung – aber darauf will ich hier gar nicht hinaus. Sondern ich frage mich, warum die Bahnhof-Fusion überhaupt stattfinden muss (ich glaube, sie ist heute längst nicht mehr geplant). 400 Meter von A nach B laufen (zu müssen), ist grundsätzlich gut. Gut für den Mensch! Gut für den Großstadtmensch. Wir müssen das Laufen wieder lernen. Sicher spart Zeit, wer flüssig mit den Öffentlichen unterwegs ist. Wir leben aber heute in einer Zeit, in der jede körperliche Bewegung zählt, auch wenn sie im Alltag einen konkreten Zweck hat (kann schon mal passieren, muss nicht gleich Sport sein), weil sie uns ganz einfach gesund hält (10.000 Schritte soll der Mensch am Tag machen, sagt der Fußverkehr-Verband). Ich bin neulich mit Freunden bei meinem Birthday-Walk 27 Kilometer durch Berlin gelaufen (anvisiert hatten wir 40), von morgens um acht Uhr bis abends um sieben (dazwischen die Mahlzeiten). Was sind da 400 Meter noch? Seitdem gehe ich lieber mal eine Station zu Fuß, um wenigstens ein bisschen im Gang zu bleiben. Jeder Weg ist ein Geschenk. So gesehen ist es auch der Stutti.

Westlicher Stuttgarter Platz 2017 - sieht eigentlich ganz schön aus, aus dieser Perspektive jedenfalls (Foto: André Franke)

Westlicher Stuttgarter Platz 2017 – sieht eigentlich ganz schön aus, aus dieser Perspektive jedenfalls (Foto: André Franke)

Was für ein Potenzial der Stuttgarter Platz doch hätte, würde man die Strecke zwischen S- und U-Bahnhof den Fußgängern so einrichten, dass es für sie das Highlight ihres (Arbeits-)Weges, das Highlight des Tages würde, ein Fest für alle Stadtreisenden! In Aachen wird gerade im Auftrag des Bauministeriums im Rahmen des Modellprojekts „Aktive Mobilität in städtischen Quartieren“ eine Premiumroute für den Fußverkehr geschaffen (bbsr.bund.de, aachener-nachrichten.de). „Premiumroute“ hört sich schon mal gut an.