Partizipation des Vergessens

Es ist schon ganz schön viel verlangt, was Stefan Evers sich da wünscht. “Mit einem weißen Blatt Papier” sollten wir in den Stadtdialog ums Rathausforum gehen. Der stadtentwicklungs-politische Sprecher der CDU im Abgeordnetenhaus hat da schlichtweg eine Unmöglichkeit geäußert. Oder eben einen Wunsch.

Rathausforum, Design der website www.stadtdebatte.berlin.de (zebralog). Um diesen Stadtraum geht´s

Rathausforum, Design der website www.stadtdebatte.berlin.de (zebralog). Um diesen Stadtraum geht´s

Die Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur “Berliner Mitte” vom letzten Montag hatte Ausnahmecharakter. Es wirkte, als fände sie in einem geschützten Raum statt. Und dieser Raum kam zustande, weil jedem klar war, dass es heute nicht um Inhalte ging, sondern um die Form. Zebralog, Agentur für crossmediale Bürgerbeteiligung, stellte das “Prozessdesign” für das Debattenprojekt ums Rathausforum vor. Heute wurde nicht geboxt, sondern der Boxkampf verabredet.

Maria Brückner (links) und Daniela Riedel von zebralog: "Bürgerbeteiligung muss auch Spaß machen."

Maria Brückner (links) und Daniela Riedel von zebralog: „Bürgerbeteiligung muss auch Spaß machen.“

Und das ist nicht einmal das falsche Wort. Antje Kapek von den Grünen, wünschte sich ausdrücklich, dass die anstehende Diskussion “knackig und kontrovers” geführt werde. Bisher war es so, dass die Debatte, ob Freiraum oder Bebauung, in den Medien und über Veröffentlichungen ausgetragen wurde. Ein Vorschlag jagte den anderen. Alle waren sie unverbindlich. Und die Giganten der Stadtplanung blieben unter sich, in ihren eigenen Veranstaltungen und übten am Punching Ball. Jetzt sollen sie sich treffen. Jetzt MÜSSEN sie sich treffen. Denn wer bei diesem Partizipationsprojekt, das sich an alle wendet, nicht mitmacht und später meckert, dem wird niemand mehr zuhören. Wenn am 18. April mit der Auftaktveranstaltung im bcc am Alex der Gong zur ersten Runde schlägt, darf es kein Ausweichen mehr geben.

Dr. Benedikt Goebel, Historiker und Mitglied des Kuratoriums. Johanna Schlaack (links), von Think Berlin und ebenfalls im Kuratorium

Dr. Benedikt Goebel, Historiker und Mitglied des Kuratoriums. Dr. Johanna Schlaack (links), von Think Berlin und ebenfalls im Kuratorium

Kommen wir zu den Ringrichtern. Es gibt sie wirklich, nämlich als 14-köpfiges Kuratorium, das aus Experten besteht, die über das Verfahren wachen sollen. Am Montag bekamen wir zumindest acht von ihnen zu sehen, was ich als Veranstaltungselement sehr sympathisch fand. Aber an der Zusammensetzung des Gremiums entzündet sich Kritik. So ist an einer Schreibtafel zu lesen: “Im Kuratorium gibt es nur einen Historiker!” Die Teilnehmer der Veranstaltung konnten hier auf Akteure hinweisen, die ihrer Meinung nach im Stadtdialog noch fehlten.

Daniela Riedel und Maria Brückner von Zebralog erklären vorher Struktur und Ablauf des breitangelegten Stadtdialogs, betitelt mit: “Alte Mitte – neue Liebe?” Nach der Auftaktveranstaltung im April als Aufwärm-Event gibt es eine Online-Beteiligung. Sie wird mit Werkstätten, Spaziergängen, Kolloquien, Ausstellungen, sogar mit Theater kombiniert. Die Ergebnisse gelangen über “entsandte” Bürger ins Halbzeit-Forum. Hier entscheiden die Entsandten über die weiteren Schwerpunkte, die nach der Sommerpause zu vertiefen sind. Im November dann: das Abschluss-Forum mit einem “offenen” Ergebnis.

Prozessdesign der Stadtdebatte "Alte Mitte - neue Liebe?" 2015 (Quelle: zebralog)

Prozessdesign der Stadtdebatte „Alte Mitte – neue Liebe?“ 2015 (Quelle: zebralog)

Diese “Ergebnisoffenheit” hat manchem an diesem Abend zu schaffen gemacht. Eine Frau sagt, sie finde den Prozess nur deshalb ergebnisoffen, weil sie das Beteiligungskonzept für schwammig hält. Riedel erklärt, das Ergebnis müsse inhaltlich offen bleiben, aber ein Ergebnis als solches müsse es auf jeden Fall geben. Empfehlungen, Leitlinien, Vorschläge können das sein. Sie werden dem Abgeordnetenhaus vorgelegt, das 2016 über alles weitere entscheidet. Viele zweifeln daher an der Verbindlichkeit des Ergebnisses. Das ist an einem spontanen Meinungsbild mit Klebepunkten deutlich zu erkennen. Warum dann überhaupt mitmachen?

Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Andreas Geisel (SPD), Nachfolger von Michael Müller

Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Andreas Geisel (SPD), Nachfolger von Michael Müller

Weil es ein Experiment ist. So versteht es auch Andreas Geisel. Der neue Stadt-entwicklungssenator will, dass die Kontrahenten aufeinander zugehen, auch die eigene Meinung in Frage stellen und lernen. “Nicht in den Prozess reingehen, um zu gewinnen”, sagt er. Das klingt weniger nach Boxen. Das geht eher in Richtung Capoeira, den brasilianischen Kampftanz. Man setzt sich miteinander auseinander, aber niemand erleidet einen ernsthaften Schaden.

24 Stunden nachdem Geisel dies in seinen Schlussworten sagte, hat einer vorgemacht, wie dieses “Aufeinander Zugehen” aussehen könnte. Benedikt Goebel kommentierte vergangenen Dienstag in einem Vortrag über “Die vergessene Schönheit der Berliner Altstadt” auch ein Bild aus DDR-Zeiten. Abgebildet war der junge Freiraum am Fuße des Fernsehturms (das Rathausforum), ein coloriertes Foto, das die sozialistische Stadt von ihrer Sonnenseite zeigt (es war ein vergleichbares Foto wie unten). Goebel, der Historiker aus dem Kuratorium, gestand dem Ort in seinem damaligen Zustand eine eigene Schönheit zu (die er heute natürlich nicht mehr habe). Zugeständnisse dieser Art sind mir im Bürgerforum Berlin bisher nicht zu Ohren gekommen. Find ich gut.

Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree zu DDR-Zeiten. Im Hintergrund: Palast der Republik. Blick in westliche Richtung +++ Foto: John Spooner, „Berlin - Hauptstadt der DDR“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Alle Bilder stammen aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de

Freiraum zwischen Fernsehturm und Spree zu DDR-Zeiten. Im Hintergrund: Palast der Republik. Blick in westliche Richtung +++ Foto: John Spooner, „Berlin – Hauptstadt der DDR“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de
Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de

Stefan Evers´ Ideal vom “weißen Blatt Papier” bleibt in meinen Augen aber eine absolute Illusion oder erfordert die Kunst des Vergessens. Das gilt zumindest für Fachleute und Initiativen. Bei demselben Vortrag, der zu einer Veranstaltungsreihe in der Volkshochschule Mitte gehört, wurde geboxt. Eine Dame, die sich als Berlin-Gast ausgab, äußerte ihre ganz persönliche Stadtwahrnehmung. Sie deckte sich aber nicht mit der vorherrschenden Meinung im Raum. Eine gestandene Architektin konterte die Touristin in den Boden, dass Ex-IBA-Moderator Hildebrand Machleidt sie mit warmen Worten nach der Veranstaltung wieder auf die Beine zu bringen gedachte. Das zeigt, wie unverrückbar Haltungen sein können, die mit jahrelanger Arbeit und Leidenschaft aufgebaut, gepflegt und in die Welt getragen wurden. (Diese Arbeit verdient nebenbei gesagt auch Respekt.)

Für die Dame, die für eine ganze Interessensgruppe steht, war das “weiße Blatt Papier” allerdings Realität. Sie sieht die Stadt wie sie ist – ohne Bilder. Schade, dass dieser fruchtbare Moment am Dienstag in der Volkshochschule nicht für eine Diskussion genutzt wurde. Ihre Frage war doch eine Steilvorlage für jeden, der sich mit Stadt auskennt: “Dann erklären Sie mir, wie die Stadt funktioniert …” Allein, es blieb keine Zeit mehr dafür. Ein bisschen unglücklich war´s.

Solche Begegnungen zwischen “beschriebenen und unbeschriebenen Blättern” werden sich im Stadtdialog “Alte Mitte – Neue Liebe?” mit Sicherheit wiederholen. Dann wird es darauf ankommen, wie weit Experten Nichtfachleute mitnehmen können. Denn Zebralog hat das Prozessdesign auf eine breite Beteiligung angelegt. “Vergessen” wir also zumindest nicht den 18. April. Drei Tage nachdem die Dialogwebsite Online ging, hatten sich schon 170 Teilnehmer für die Auftaktveranstaltung angemeldet – übers Wochenende.


website des Stadtdialogs „Alte Mitte – neue Liebe?“ unter www.stadtdebatte.berlin.de (mit Anmeldung, Umfrage und Newsletter)

Livestream und Video-Aufzeichnung der Veranstaltung vom 15. Februar im Umspannwerk Alexanderplatz der Friedrich-Ebert-Stiftung unter www.sagwas.net

nächster Vortrag in der Veranstaltungsreihe „Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Berliner Stadtkerns“ des Bürgerforums Berlin e.V. in der Volkshochschule Mitte am 3. März, dann das Thema „Totale Transformation – Stadtumbau zwischen 1840 und 1939“, mit Historiker Dr. Benedikt Goebel (kostenfrei, Anmeldung prinzipiell nicht nötig, aber erwünscht, und zwar hier)

Heute im Angebot: Argumente gegen die Groth-Pläne im Mauerpark

Flyer der Mauerpark-Allianz (Ausschnitt): Schwarze Lkw und Pkw zeigen die Befürchtungen vor erhöhter Verkehrsbelastung, besonders durch den Baustellenbetrieb

Flyer der Mauerpark-Allianz (Ausschnitt): Schwarze Lkw und Pkw zeigen die Befürchtungen vor erhöhter Verkehrsbelastung, besonders durch den Baustellenbetrieb

Ab heute beginnt für das Prozedere der Pläne im Mauerpark die zweite Stufe der Bürgerbeteiligung, die sogenannte “Öffentliche Auslegung”. Bis zum 16. März kann jeder, der möchte, seine Einwände gegen den Bebauungsplan 1-64a VE hervorbringen – in der Hoffnung, dass das Bezirksamt Mitte die Einwände berücksichtigt.

Der B-Plan soll dem Investor, der Groth Gruppe, Baurecht für ein Wohngebiet mit derzeit 709 Wohnungen nördlich des Gleim-tunnels verschaffen und ist infolge von städtebaulichen Verträgen die Voraussetzung für die Erweiterung des Mauerparks südlich davon.

Eine erste, “frühzeitige” Beteiligung, hat 2010 stattgefunden. Damals gaben Bürger 2.649 Stellungnahmen ab. Die Intitiativen kritisierten das Auswertungs-ergebnis, in dem die Einwände ihrer Ansicht nach kaum Berücksichtigung fanden. Das Bezirksamt, in Person des damaligen Baustadtrats Ephraim Gothe behauptet das Gegenteil (Fazit aus dem 18-seitigen Auswertungsergebnis; ganzes Dokument hier):

“Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass nach Abwägung der privaten und öffentlichen Belange zu den Planungszielen, das Verfahren des Bebauungsplans 1-64 unter Beachtung vorgebrachter Hinweise weiter verfolgt wird.”

Die Mauerpark-Allianz, ein Zusammenschluss aus Initiativen, Der Linken und den Piraten, informierte schon letzten Donnerstag über die Pläne und die Auslegung. Sie sieht das Prenzlauer Berger Gleimviertel und das Brunnenviertel im Wedding (Bezirk Mitte) von Gentrifizierung bedroht. Eine 3D-Animation läuft dazu auf youtube. Sie lässt die Baumassen in die Höhe wachsen und zeigt die befürchtete Verschattung der betroffenen Anrainer, wie die Jugendfarm Moritzhof.

Planzeichnung des offziellen B-Plan-Entwurfs 1-64a VE: rot bedeutet, die Flächen werden als Wohngebiet ausgewiesen. Grün: öffentlicher Spielplatz. Zu dem Plan gibt es eine schriftliche Begründung, die auch eingesehen, gelesen werden kann. Viel Spaß!

Planzeichnung des offziellen B-Plan-Entwurfs 1-64a VE: rot bedeutet, die Flächen werden als Wohngebiet ausgewiesen. Grün: öffentlicher Spielplatz. Zu dem Plan gibt es eine schriftliche Begründung, die auch eingesehen, gelesen werden kann. Viel Spaß!

Die Allianz bietet einen umfangreichen Service. In ihrem fünfsprachigen Flyer gibt sie den Bürgern, die sich beteiligen wollen, ein Abreißformular an die Hand und bietet auf ihrer website sogar Argumente gegen die Groth-Pläne an. Die Mauerpark-Allianz, zu der auch die mit dem Volksentscheid erfolgreiche Initiative 100% Tempelhofer Feld gehört, bereitet außerdem ein Bürgerbegehren gegen den B-Plan vor.


Die Mauerpark-Geschichte ist äußerst komplex. Man kann sie sich bei Gelegenheit mal erklären lassen – immer montags 19:00 Uhr in der Jugendfarm Moritzhof, Schwedter Straße 90, wo sich die Mauerpark-Aktivisten für Fragen zur Beteiligung zur Verfügung stellen. Mehr Infos zum Plan und zur Auslegung auch auf der website des Bezirksamts Mitte, hier.

Mehr Beiträge auf Futurberlin.de

  • „Der Stadtrat, der aus der Hüfte schießt“ – Wie Mittes Baustadtrat Carsten Spallek weniger Bürgerbeteiligung wagt und mit seinem kuriosen Stil bisher ganz gut fährt (März 2013), im Fokus drei Mitte-Projekte: Mauerpark, Monbijoupark und Marienkirchhof
  • „Ob es klappt, weiß man nicht“ – Interview mit Frank Bertermann (Grüne), Vorsitzender des Stadtentwicklungsausschusses der BVV Mitte, über die damals initierte Bürgerwerkstatt Mauerpark und den aufgstellten Bebauungsplan 1-64 (August 2010)

21 Tonnen am Stück ohne Schnitt und Fuge? Schlossbildhauer: Das hätt´s bei Schlüter nicht gegeben

Eine Stunde und einundzwanzig Minuten braucht ein Mensch in Berlin, um vom U-Bahnhof Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg zum Askanierring 74 in Spandau zu gelangen – zumindest mit den Öffentlichen. Das ist länger als meine weihnachtliche oder österliche Heimreise ins sachsen-anhaltische Karow dauert. Warum also dorthin fahren? Weil an dieser Adresse die mittigste Mitte der Stadt gespachtelt wird und gebildhauert: die an den Rohbau des Humboldtforums zu hängenden, spendenfinanzierten Barockfassaden in der sogenannten “Schlossbauhütte”.

An einem sonnigen Februarsonntag: das Schlossportal III (Eosanderportal), das sich noch ohne die Portalkrönung zeigt, an der Bildhauer Frank Kösler in der Schlossbauhütte in Spandau gegenwärtig noch arbeitet (Foto: André Franke)

An einem sonnigen Februarsonntag: das Schlossportal III (Eosanderportal), das sich noch ohne die Portalkrönung zeigt, an der Bildhauer Frank Kösler in der Schlossbauhütte in Spandau gegenwärtig noch arbeitet (Foto: André Franke)

Ungefähr 10.000 Steine bearbeiten die Bildhauer hier. Kleine und große, neue und Originale. Ich treffe auf der Führung, die der Architektur- und Ingenieurverein zu Berlin organisiert hat, das Säulen-kapitell wieder, das jahrzehntelang an der Ruine der Kloster-kirche lag, und natürlich gibt es hier sehr viele Adler, über die ich heute alles andere als spotten will (die Satire gibt´s hier).

Eher ergreift mich eine Ahnung von der Größe, der Komplexität der Rekonstruktionsaufgabe, die sich die Schlossstiftung gestellt hat. Es ist ein Puzzle aus tonnenschweren Steinskulpturen, die alle zuerst in Gips modelliert und zuvor ins korrekte Maß gebracht werden müssen. Schlüter, sagt Bertold Just, Leiter der Schlossbauhütte, arbeitete vor dreihundert Jahren mit dem “Rheinischen Fuß”. Franco Stella dagegen denkt und liefert die Pläne metrisch. Die Bildhauer rechnen um, skalieren in dieser Hütte, damit 2019 in Mitte alles passt.

Einer von ihnen ist Frank Kösler. Die klassische Musik, die auf der Tour in der Halle im Hintergrund zu hören ist, kommt von seinem Arbeitsplatz. Bautzener Senf steht auf einem kleinen Pausentisch und eine Packung Salz. Der Bildhauer ist mit einer Portalkrönung beauftragt, an der er seit September arbeitet. Kösler versteht Steine. Er beschreibt mit seinem ganzen Körper, wie sie sich setzen und Ruhepunkte suchen, sich später aber dennoch bewegen. Unbegreiflich ist ihm, warum der Stein, den er mit seinen zwei Töchtern gestaltet (es ist der größte, der in einem Stück an die Fassaden angebracht wird und er wiegt 21 Tonnen), nicht geschnitten und gefugt wird. Bei Schlüter hätte es sowas nicht gegeben, sagt er und prophezeit Risse. “Kollege Sollbruchstelle”, ein Wort Köslers, ist im Gipsmodell schon zu sehen.

Kösler versteht auch Barock. Er lebt ihn, um ihn produzieren zu können, das erklärt er auch ganz ausdrücklich in einem Stiftungs-Video über die Schlossbauhütte und stellt es live unter Beweis (zum Video hier). Spuren der barocken Lebensfreude, die er für seine Arbeit zur Praxis erhebt, stehen auf dem Tisch gleich neben dem Senf: drei leere Flaschen Budweiser. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können und war nicht der einzige, der am Ende der Führung noch lange bei ihm stehenblieb, als der Barockbildhauer leidenschaftlich ausführte, dass man nicht mit jedem Stein alles machen könne, zum Beispiel mit schlesischem Sandstein nicht schlüterschen Barock. Und er prophezeit, dass das Ergebnis entsprechend aussehen werde. – Eine Stunde und einundzwanzig Minuten denke ich auf dem Heimweg darüber nach, was ich von dem Projekt jetzt halten soll. Aber die Zeit, die vorher lang war, ist für die Antwort zu kurz.

Wie ein „Bordeaux“: Stadtkern-Kurs an der VHS wirbt für Berlin-Geschichte, aber auch für die eigene Meinung

Mit der Berliner Altstadt sei es wie mit Bordeaux-Weinen, sagt Benedikt Goebel, der im Namen des Bürgerforums Berlin am Dienstag in die Volkshochschule zum Auftakt der Veranstaltungsreihe „Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Berliner Stadtkerns“ einlud. 

„Es dauert ein Weile bis man zum Kenner wird, aber bis dahin hat man einfach eine schöne Zeit.“

Multifunktionsraum in der VHS-Mitte mit den pünktlichen Gästen. Es kamen mehr als zu sehen sind. (Foto: Christina Kautz)

Multifunktionsraum in der VHS-Mitte mit den pünktlichen Gästen. Es kamen mehr als zu sehen sind. (Foto: Christina Kautz)

Der multifunktionale Raum 1.12 in der Linienstraße 162 war gut besucht. Die VHS lieferte Stühle nach. Die Landschafts-architektin Christina Kautz und der Architekt Lutz Mauersberger hielten einen bilderreichen Vortrag über den Ursprung der Doppelstadt Berlin-Cölln und der historischen Stadtentwicklung an der Spree und dem Spreekanal. Und jene Bilder sind es eben, die einen zum Genießer werden lassen, bevor man sich versieht, weil sie Berliner Orte zeigen, die es nicht mehr gibt: Packhöfe, Oberbäume, Unterbäume, Schleusen, Pferdeschwemmen, Wasserkunst, Brückenschmuck, Fischkästen. Und Flussbäder.

Projekt Flussbad Berlin: renaturierter Spreekanal für ein sauberes Schwimmbecken direkt am Lustgarten (Bild: Flussbad Berlin e.V., realities:united)

Projekt Flussbad Berlin: renaturierter Spreekanal für ein sauberes Schwimmbecken direkt am Lustgarten (Bild: Flussbad Berlin e.V., realities:united)

Wobei die historischen Spree-Flussbäder hier eine ziemliche Steilvorlage boten für die Diskussion über das Zukunftsprojekt „Flussbad Berlin“, das auf 750 Meter Länge zwischen Bodemuseum und Schleusenbrücke gebaut werden soll und mit vier Millionen Euro aus dem Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ öffentlich gefördert wird (hier mehr zum Projekt).

Das wird beim Bürgerforum sehr kritisch gesehen. Und Gründe, dem Flussbad-Projekt skeptisch gegenüber zu stehen, gibt es einige, zum Beispiel die Standortwahl: Man brauche sowas nicht an einer prominenten Stelle wie der Museumsinsel, meint Christina Kautz. Lutz Mauersberger macht auf den Preis aufmerksam, mit dem das Schwimmbecken bezahlt wird: die Filteranlage und Moorlandschaft, die den restlichen Spreekanal bis zur Mündung ausfüllen sollen. Und Benedikt Goebel ergänzt, dass Projektbilder eben auch nicht riechen. Sprich: das Projekt beeinträchtige potenziell die Wohnqualität an den angrenzenden Ufern, zum Beispiel auf der Fischerinsel.

Für einen Volkshochschulkurs könnte das für manchen ein bisschen viel Meinung gewesen sein. Oder auch nicht. Kennerschaft bringt am Ende eben auch ein handfestes Urteilsvermögen mit sich. – Prost.


Zum „Flussbad Berlin“ wird es beim Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (AIV) am 23. Februar eine Veranstaltung geben.

Der nächste Kurstermin für angehende und schon gereifte Stadtkernkenner findet in der VHS Mitte am 17. Februar statt, dann unter dem Thema „Vergessene Schönheit der Berliner Altstadt“.

Kommen unkompliziert: keine Anmeldung nötig, kostenfrei, und Stühle gibt es auf jeden Fall genug.

Piraten-website „BERwatch“ rettet alle Flughafen-Verwirrten – DANKE!

Ein Eldorado für alle Flughafen-Verrückten: die website "BERwatch" von den Berliner Piraten

Ein Eldorado für alle Flughafen-Verrückten: die website „BERwatch“ von den Berliner Piraten

Als ich vor ein paar Wochen mit Kollegen in der Stadtklause am Askanischen Platz saß und wir über den BER redeten, wurde mir klar, dass das Problem des Flughafenprojekts aus heutiger Sicht im Grunde darin besteht, dass die Vorgänge und verschiedensten Aspekte nicht mehr kommunizierbar sind. Es fehlt die Zeit, um die ganze Geschichte zu erzählen. Und hätte man sie, fehlte den Zuhörern die Geduld. Denn es müsste ja so lange dauern!

Ich frage mich, in welcher Form die Geschichte vom BER eigentlich erzählbar wäre. Wie geht diese Geschichte? Wer kann sie (mir) in zehn Minuten zu verstehen geben? Und was ist an ihr eigentlich das Wichtigste? – Eine einfache Chronik beantwortet diese Frage nicht.

Suchend bin ich gestern auf die website “BERwatch” der Berliner Piraten gestoßen, auf der sie den Bauskandal vieldimensional für den laufenden Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus aufarbeiten. Und ich bin beeindruckt. Ich will sie hiermit all jenen empfehlen, die professionell oder in ihrer Freizeit in die Wissenschaft des “komplexen Flughafenverbaus” einsteigen wollen.

Die website bietet gleich mehrere, externe Chroniken an, verlinkt zu den jeweiligen Medien. Die Chronik von BERwatch selbst ist abrufbar nach separaten Themen, zum Beispiel Standortwahl, Lärmschutz, politische Aufarbeitung. Aber nicht nur das. Die website hat auch die überholten Zielsetzungen des Projekts erfasst, und führt systematisch in den Dschungel der an dem Großprojekt beteiligten Akteure. Das ganze wird unterlegt mit fundierten und für jeden einsehbaren Dokumenten.

Wünsche viel Spaß dabei!