Touristen fröhnen dem Stadtbild Berlins – ich auch

Es ist mir Balsam auf der Seele, wenn ich lese, dass wieder mehr Touristen in die Stadt kommen. Erstmals seit der Pandemie verbuchen die Hotels im vergangenen Jahr wieder mehr als 30 Millionen Übernachtungen mit knapp 13 Millionen Gästen in den Betten, berichtet die Morgenpost aus einer Studie. Mit Genuss vernehme ich, dass 60 Prozent der Besucher aus Deutschland kommen. Das ist ja wirklich wie in alten Zeiten. Und dann lese ich das: Nach dem Grund gefragt, warum sie kommen, sagen sie, sie kämen fürs Stadtbild und für die Architektur. Dieses Reisemotiv steht mit 37 Prozent sogar vor der Geschichte und vor dem Berliner Nachtleben!

Körtes Stadtbild

Da muss ich schmunzeln. Denn ich denke an Donnerstag-Abend letzte Woche. Da war ich zu Gast bei einem Vortrag des Vereins Forum Stadtbild im Theater Coupé am Fehrbelliner Platz in Wilmersdorf. Der Verein hatte Arnold Körte eingeladen, der über das Schaffen des Berliner Architekten Martin Gropius referierte und in bescheidenem Ton, nur in einem Nebensatz bemerkte, Gropius sei sein Ur-Großvater gewesen. Körte ging es ebenfalls sehr um das Berliner Stadtbild.

Er zeigte ein Plakat, das im Jahre 1913 entstanden war. Das Fremdenverkehrsamt hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben, um Berlin zu „branden“. Heraus gekommen war ein Bild, das im Vordergrund den Spreekanal mit einem Kahn zeigte und dahinter die kleinteilige vormoderne Bebauung des Berliner Stadtkerns am Ufer. Sie konnte im Grunde genommen für die abgerissene „Schlossfreiheit“ stehen, wenn man den Schauplatz standortgerecht übersetzen wollte. Denn hinter diesen Reihenhäusern, Townhäusern würden wir sie heute nennen, türmte sich maßstabsungerecht, quasi „out of scale“, das Berliner Schloss auf  – mit dem Eosanderportal inklusive der Schlosskuppel -, größer als es von Natur aus da stand. Das war die Botschaft: Der übermächtige Repräsentationsanspruch der Hauptstadt, Kaiserstadt, versus Kiez.

Arnold Körte lobte das Poster sehr, die Klarheit in der Aussage. Dagegen hielt er die plakativen Botschaften der heutigen Berlin-Vermarktung: Hier das Brandenburger Tor im Gegenlicht der Abendsonne, dort das Bodemuseum mit dem Fernsehturm im Nacken. Dazu diverse Luftbild-Perspektiven, die den verzweifelten Versuch darstellen, die Großstadt in seiner Gesamtheit zu ergreifen, zu begreifen, zu übergeben: an den (schon damals existenten) Hauptstadttouristen. Medial geht das Stadtmarketing seit 1913 nur noch den Bach runter, so die Message. Kann man gar nichts gegen sagen.

Stadtbilder von Chipperfield

Aber auch die Realarchitektur kommt bei Körte schlecht weg. Die Kolonnaden der James-Simon-Gallerie auf der Museumsinsel von David Chipperfield sind ihm zu hoch geraten, weil das dahinter stehende Pergamonmuseum zu verschwinden droht. Und die Rundbögen im Gropius-Ensemble des Forums Museumsinsel (auch ein Chipperfield-Bau) sind für ihn unverständlich, weil der Vorgängerbau von Gropius eben eine ganz andere Fassadengestalt gehabt hat. Als er dann aber eine Perspektive von der Museumsinsel mit Blick nach Westen zeigt, auf der in voller Uferbreite die Kolonnaden an der Alten Nationalgalerie zu sehen sind und Körte bemerkt, er hätte das im Hintergrund stehende schwarze Hochhaus, das Internationale Handelszentrum der DDR, am liebsten aus dem Foto herausretuschiert, wurde mir klar, dass Berlin nicht mit noch so hingebungsvoller Vedutenliebe erklärbar ist.

Mit Veduten hatte Körtes Vortrag begonnen: mit dem schönen Dresden im stimmungsvollen 18. Jahrhundert, einer Stadtansicht vom rechten Elbufer unter der Augustusbrücke mit Frauenkirche, Hofkirche und Schloss, geschaffen von Bernado Bellotto aus dem Jahr 1748. Für Berlin, so Körte, hat es so eine vergleichbare Vedute nie gegeben.

Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich, weil Berlin von Grund auf zu facettenreich ist. Allein die Lage an Spree und Spreekanal vervierfacht das Stadtbildpotenzial der Uferlagen, wenn man sich vor Augen hält, dass mit Berlin, Cölln und Friedrichswerder gleich drei Städte (bzw. nach 1709 drei Stadtteile) am Wasser lagen und sich fortan mit Bauten präsentierten.

Berlin und seine Störer

Am ehesten käme noch das Panorama Berlins von Caspar Merian von 1652, ein Stich, in Frage, auch wenn es verglichen mit der Vedute von Dresden hundert Jahre früher entstand. Darin blicken wir vom Westen kommend entlang der schönen und Schatten werfenden Linden in der Bildmitte auf die Mauern Cöllns und das Schloss des Großen Kurfürsten. Ein Drittel der Bildfläche nehmen Felder ein, die schon ein halbes Jahrhundert später mit der Dorotheenstadt und Friedrichstadt bebaut werden sollten. Das heißt, bereits eine Fürstengeneration später, war das Stadtbild obsolet geworden. In Dresden dagegen fließt die Elbe immer noch unter der Augustusbrücke hindurch.

Das ist das Problem mit Berlin. Berlin ist zu schnell. Berlin hat zu viele Störer. Und so ein Störer ist eben auch das Internationale Handelszentrum für Arnold Körte in seinem Bild von der Museumsinsel.

Internationales Handelszentrum mit Blick aus der Charlottenstraße im Sommer 2023 (Foto: André Franke)

Mich stört es nicht. Ich kann mit diesem DDR-Hochhaus an der Friedrichstraße viel anfangen. Es war bis vor ein paar Jahren nachts in einem ganz warmen Orange beleuchtet, bevor aus irgendeinem Grund das Licht greller wurde. Da saß ich einmal im Open-Air-Kino des Bundestags am Reichstagsufer gegenüber dem Elisabeth-Lüders-Haus auf der Ufertreppe und blickte weg vom Film Richtung Osten zum Mond. Es war Vollmond. Und der Vollmond hing wie ein Lampion oder wie eine fette Orange am Horizont über dem Bahnhof Friedrichstraße. Da bildeten der Erdtrabant und das Handelszentrum einen Doppelpunkt am Berliner Nachthimmel, als hätten sie sich zu diesem Treffen verabredet.

Großstadtwalks mit Mental map

Ein anderes Mal lief ich zu Fuß vom ICC zur Pappelallee. Es war ein schöner Sonntag, und durch einen Zufall landete ich tief im alten Westen Berlins. Ich hatte überraschend drei Stunden Zeit, um eines meiner Kinder von einer Geburtstagsparty abzuholen. Das ICC steht am Rand des Grunewalds. Die Pappelallee liegt in Prenzlauer Berg. Blickt man von hier aus, von der Pappelallee, Richtung Stadtzentrum, steht am Ende des kilometerlangen Straßenzugs, der in die Kastanienallee und in den Weinbergsweg übergeht, das weiß-schwarze Internationale Handelszentrum.

Ich stellte die Strecke auf den Kopf, ging die erste Etappe vom ICC über die Kantstraße zum Breitscheidtplatz mit der Gedächtniskirche, zog weiter entlang der Tiergartenstraße bis ungefähr zum Potsdamer Platz, und spazierte durch die westliche Friedrichstadt bis zur Friedrichstraße. Hier, etwa Höhe Mohrenstraße, drehte ich nach Norden ein und steuerte das Handelszentrum an. Als ich das Gebäude erreicht hatte, stand ich im Kopf schon in der Pappelallee. Als ich dort ankam, hatte ich einen meiner schönsten Großstadtwanderungen hinter mich gebracht. Ich erinnere mich, dass ich anfangs nur die Kantstraße gehen und ins Schwarze Café einkehren wollte. Aber die Sonne schien. Also verlängerte ich. Ich weiß nicht mehr genau, ab wo ich an das Hochhaus dachte. Es war spätestens an der Gedächtniskirche. Das Hochhaus hat mich zu diesem Akt motiviert. Später hat es mir geholfen, die Langstrecke in Etappen zu zerlegen. Es war ein Meilenstein auf diesem Weg. Hätte ich diesen Spaziergang unternommen, wenn das Hochhaus nicht dort stünde?

Bereitschaft zur Verstörung

Berlin ist nicht schön im Sinne von vollendet. Berlin ist stark im Sinne von: Hier wirken viele Kräfte. Und Berlin ist stärker als wir und unsere Wünsche. Das macht sie zur Großstadt. Sie ist immer irgendwie größer als wir, geht andere Wege als in Richtung unserer Visionen, lässt uns morgen nicht mehr das vorfinden, was gestern war. Berlin bedeutet, bereit sein, sich verstören zu lassen.

Vielleicht ist das die Aufgabe dieser Stadt. Die Menschen aufwecken und zu Nachdenken bringen, nicht zum Träumen. Und ich glaube, dass auch viele Touristen nicht mit romantischen Erinnerungen, sondern mit gemischten und geladenen Eindrücken nach Hause fahren. Berlin ist eben – positiv ausgedrückt – immer eine Inspiration.

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