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Merks heißer Markt

Wanderer, kommst du im Sommer über die Lange Brücke nach Potsdam, merke dir: Das erste und das letzte, das du siehst, wird der Alte Markt sein. Und er wird heiß sein. Trittst du aus dem Schatten der Humboldtstraße heraus, um zum Obelisk zu gehen, wird ein Sack Sonne dir in den Nacken fallen, der dich niederstreckt. Dann wirst du plötzlich dem freien Himmel entfliehen, zurückweichen und dich entlangschleichen an der einzig verschatteten Platzseite, entlang des leider nur zweistöckigen Fortunaportals. Willst du dich setzen, musst du ein wahrlich früher Touristenvogel sein. Denn hier im peripheren Schatten des Barockplatzes steht die einzige Bank, die Sinn macht. Hast Du sie dir dann unter den Nagel gerissen, hältst du den Hauptpreis in Händen, darfst das Panorama aus Nikolaikirche, Altem Rathaus und Barberini bestaunen – und weiterleben. Alle andern verglühen oder verschmelzen mit den Pflastersteinen.

Alter Markt: Blick von der Nikolaikirche zum Barberini. Im Hintergrund: Potsdams Hauptbahnhof und Lange Brücke. Achtung: Märzschatten am Nachmittag, der fällt beträchtlich schmaler im Sommer aus (Foto: André Franke)

Stadtplanung kann gemein sein. Kaum hat Potsdam nach dreißig Jahren seinen zerrissenen Ursprungsort wiederaufgebaut, steht schon die nächste Gestaltungsaufgabe vor der Tür. Tür, das meine ich wörtlich: Die Umgestaltung des Alten Marktes zu einem aufenthaltsfördernden, kommunikativen Stadtplatz liegt vor den Türen von Nikolaikirche, Landtag, Potsdam Museum und Barberini sowie vor den Türen und Fenstern der neuen Stadthäuser des flankierenden Leitbautenblocks III. Am Alten Markt hat sich Potsdam „vom Kopf wieder auf die Füße gestellt“, um es mit den Worten von Arnold Bartetzky zu sagen.

Das ist einen Satz Anerkennung wert, wirklich. Aber was soll ein Barockplatz, wenn die Menschen ihn nicht benutzen können? Kaum Schatten (okay, am Obelisk), kein Wasser (nur Gastro), kein Grün (Kirschbaum nördlich des Altes Rathauses zählt nicht) und wie schon angesprochen: kuriose Sitzgelegenheiten, die man (weil in der ehemaligen Militärstadt Potsdam) unbedingt „spartanisch“ nennen muss (acht Bänke, davon aber nur eine dort, wo man sie wirklich braucht).

Rote Karte für den Alten Markt

Seit August 2019 herrscht in Potsdam Klima-Notstand. Es gibt ein Klimaanpassungskonzept, ein Integriertes Klimasschutzkonzept, eine Stadtklimakarte, einen Hitze-Aktionsplan, eine Hitzeschutz-Kampagne für Kinder und für Senioren (siehe „Hitzi – Potsdams cooles Hitzeheft“). Die Stadt betreibt auch ein Tausend-Bäume-Programm. Ja, Potsdam landet im Hitze-Check der Deutschen Städte mit über 50.000 Einwohnern sogar auf dem dritten Platz hinter Detmold und Ratingen. Denn die Stadt weist dank der Parks und Gewässer eine Versiegelungsquote von nur rund 37 Prozent auf, wo der Durchschnitt in Deutschland bei 45 Prozent liegt. Städte seien „Hitze-Höllen“, sagt Barbara Metz von der Deutschen Umwelthilfe. Aber Potsdam?

Gemessen an den Aktionen und den nackten Zahlen scheint Potsdam als Gesamtstadt ganz gut im Rennen zu liegen. Doch die Innenstadt ist der Ort, wo die Sonne knallt. Die Stadtklimakarte zeigt rote Flecken über dem Holländischen Viertel und über dem Alten Markt. Zwar prüft die Stadt 110 innenstädtische Standorte, um neue Bäume zu pflanzen. Aber es kämen am Ende voraussichtlich nur etwa 40 neue Bäume, sagt Bernd Rubelt, Baubeigeordneter der Stadtverwaltung, im Tagesspiegel.

Nun könnte man mit vierzig Bäumen den Alten Markt bewalden. Das zu verhindern, dazu scheinen die Verantwortlichen fest entschlossen zu sein.

Gepflanzt werden sollen nur eine Platane vorm Mercure Hotel, eine Linde vor der Spielbank in der Breiten Straße, Stauden vor dem Filmmuseum und drei Schnurbäume in der Nähe der Ringerkolonnaden. Ein einziger Baum könnte eventuell auf dem Alten Markt gepflanzt werden: vor dem Eingang des Potsdam-Museums, so Denkmalschützer Felix Merk im selben Artikel des Tagesspiegel. Der Preis – der Baum verdeckt die Werbefläche des Museums – scheint ihm allerdings zu hoch bemessen. Positiv ausgedrückt, setzt sich für den Alten Markt bei dem Denkmalschützer eine Art Profiling durch.

„Das ist eben der steinerne Platz.“

(Denkmalschützer Felix Merk im Tagesspiegel v. 08. August 2024, siehe Links)

Merk erkennt die Einzigartigkeit des Alten Marktes gegenüber dem schon grünen oder zukünftig grünen Rest-Potsdam: „Das ist eben der steinerne Platz.“ Die Kritik am baumlosen Platz werde zu Ende gehen, wenn der benachbarte Steubenplatz bald bepflanzt sein wird, hofft er.

Und wie resignierender Pragmatismus klingt es bei Bernd Rubelt, wenn er sagt, wir könnten vor dem Museum nicht alles mit Bäumen vollstellen. Das sei „sonnenklar“. Wir könnten die Gestaltung des Platzes auch nicht mit jeder Mode revidieren.

Die Potsdamer Stadtväter sehen den Alten Markt offenbar als eine Art fremde Tante, ein geladenes, aber unantastbares Familienmitglied, das es nicht zu brüskieren gilt. Natürlich können Bäume auf dem Alten Markt stehen. Die Frage ist nur welche? Und wieviele und wo? Und auch ab wann?

Was Bäume im Stadtklima leisten, will ich hier gar nicht ausbreiten. Womit ich mich abgeben möchte, ist die Frage nach Schatten für den Platz. Und um den Alten Markt zu beschatten, braucht es nicht unbedingt Bäume. Bäume sind die langfristige, multifunktionale Lösung. Und ja, Bäume auf dem Alten Markt verändern seinen Charakter nachhaltig. Da darf Felix Merk ruhig ein bisschen Bammel haben.

Wer Rasen säht, wird Menschen ernten

Fangen wir doch mal mit Blümchen an. Beim Blüten- und Genussfestival im Jahr 2022 legte der Veranstalter auf dem Alten Markt Blumenteppiche aus. Das diente in erster Linie dazu, den Brandenburgischen Gartenbau als Wirtschaftsfaktor zu präsentieren. Umgeben von Farben sah der Obelisk auf einmal viel schöner aus. Die Aktion hatte den fruchtbaren Nebeneffekt, dass der Tagesspiegel in einem Kommentar von Henri Kramer forderte, der Alte Markt brauche eine üppige Begrünung. Er rief die Potsdamer Bauverwaltung auf, kreative Lösungen für den Alten Markt zu finden. Dazu will ich etwas beisteuern.

Alter Markt farbig: Blüten- und Genussfestival 2022 (Foto: Sylvia Schießer, M.A.)

Auch wenn Blumen noch keinen Schatten für Menschen werfen – fangen wir ganz unten an: Fangen wir auf dem Boden an. Was, wenn der Alte Markt entsiegelt würde? Teilweise. Einfach ein paar bestimmte Pflastersteine aus der Platzfläche herausnehmen und einen Blumentopf reinstellen. Im Kreativquartier an der Plantage baut der Projektentwickler die Hofwege auf dem zentralen Quartiersplatz mit versprengten Gehwegplatten, die nach rechts und links ausfallen auf unbefestigte Flächen – eine Technik, die man auf befestigten Stadtplätzen doch schnell übernehmen könnte.

Dass es zwischen den Anrainergebäuden des Alten Marktes früher Wegebeziehungen gegeben hat, sieht man deutlich auf dem Ölgemälde von Wilhelm Barth aus dem Jahr 1823. Jenseits dieser Wege erkennt man dort „sonnenklar“ den grünen Rasen.

Es gibt keine Aufenthaltsart, die sommerlicher und freier ist, als auf der Wiese zu liegen. Das Stadtliegen ist dem Auf-der-Bank-Sitzen hochwertiger, weil diejenigen, die sich hinlegen, sich zu hundert Prozent zu dem Ort bekennen. Sie lassen sich auf ihn ein und sagen mit dem Körper: Hier will ich bleiben. Menschen, die sich auf die Bank setzen, tun das nur zur Hälfte. Sie sagen eher: Okay, guck ich mir mal an, aber … ich bin auch ganz schnell wieder weg, wenn das nichts wird mit uns hier. Ein Ort, der beide Aufenthaltsmöglichkeiten bereithält, Bänke und Rasen, gibt Stadtplanern oder Tourismusforschern einen Maßstab zur Qualitätssicherung an die Hand. Ein Ort fesselt, wenn die Leute liegen.

Parlamentshonig für die Baumeister

Denken wir den Obelisk mal weiter. Umgeben von Blumen, das wäre schön. Muss aber auch nicht sein. Umrundet von einem ein bis zwei Meter breiten Rasenring, das wäre einladend und praktisch. Man säße mit dem Rücken an den Stein gelehnt und läse ein Buch oder was anderes.

Mehr zu den Blumen: Oben, im Fortunaportal hat Imker Holger Ackermann zwei Bienenstöcke stationiert. Sie sammeln die Pollen im Umkreis von fünf Kilometern und machen daraus „Parlamentshonig“. Er schmeckt nach Linde und Götterbaum. Und ich habe ihn gekostet. Warum nicht den Bienen die Ware vor die Haustür bringen? Mehr Vegetation auf dem Alten Markt, würde somit auch bedeuten, Beziehungen zum belebten Bestand aufzubauen und zu erweitern. Als Dankeschön lassen sich die Bienen dann vielleicht öfter vor dem Barberini sehen.

Ich will nicht so weit gehen, den Obelisk selbst zum Bienenstock umzuwidmen. Aber wenn ich mir das mal überlege, könnte Potsdam mit so einer Aktion wirklich Aufsehen erregen. Ein Bienenstock mitten auf einem Barockplatz, bewacht von vier Baumeistern (gemeint sind die Medaillons am Obelisk), das hat doch was. Da werden Architekten zu Artenschützern.

„Hitze-Höllen“ brauchen Leichtarchitekturen

Kommen wir mal ein bisschen weg vom Boden und lassen das steinerne Pflaster wie es eben ist. Da gibt es zunächst mal die flexible Maßnahme, Pflanzen und Bäumchen in kleinen und großen Kübeln, auch in Hochbeeten zu postieren. Das sieht man mittlerweile an vielen Orten, zum Beispiel auf dem Kulturforum in Berlin.

Passender für Potsdam aber betrachte ich die Laubengänge, wie man sie am Schloss Belvedere oder im Park Babelsberg vorfindet. Das ist doch eine geniale Leichtarchitektur, die in den „Hitze-Höllen“ des 21. Jahrhunderts als Standard auf offenen Stadtflächen aufgebaut werden sollte. Muss ja nicht alles bogenförmig und mit Gehölzen bestückt sein, die Strukturen lassen sich aus vielen Materialien erschaffen und variieren.

Hauptsache ist: Wir finden Schatten. Und Schatten – besonders an den im Jahr 2023 gezählten 15 „Hitze-Tagen“ mit Temperaturen über 30 Grad Celsius – brauchen wir grundsätzlich auch in der Bewegung, nicht nur wenn wir verweilen. Haben nicht die Preußen die Alleen erfunden, um die Soldaten zu schützen? Halbschatten tut´s übrigens auch. Halbschatten ist vor allem psychologisch wichtig.

Laubengang-artige Fußgängerbrücke in Melbourne (Foto: André Franke)

Einen solchen Laubengang, einen solchen, blickdurchlässigen Halbschattenschlauch, könnte man auf der Trasse der alten Tramlinie über den Alten Markt führen. Das heißt, er würde aus der Humboldtstraße auf den Platz zulaufen, vor dem Obelisk nach links schwenken und dann hinter der Nikolaikirche nach rechts in die Anna-Flügge-Straße einbiegen. Wichtig wäre, dass die Struktur semi-transparent bleibt. Die hindurch schlendernden Menschen sollten die außerhalb stehenden Bauten sehen oder sie zumindest wahrnehmen; und die Leute vom Platz sollten die Bewegung der Menschen im Laubengang registrieren und Bock kriegen, selber durchzulaufen.

Laubengang im Park Babelsberg, Potsdam (Foto: André Franke)

Steigen wir nun in die Höhe. Wie wäre es möglich, Merks steinernen Platz einen steinernen Platz bleiben zu lassen und ihn trotzdem und vielleicht gerade deswegen flächig zu verschatten? Wenn das Steinerne die Qualität des Ortes sein soll, dann sollte der steinerne Alte Markt doch auf jedem Quadratzentimeter zugänglich sein oder etwa nicht?

Für eine luftige Wimpel- und Girlandenhaube

Stellt Euch vor, auf dem Alten Markt landete ein luftig leichtes, bewegliches, flatterndes, löchriges, bescheidenes Zirkuszelt. Als senkte sich ein Netz vom Himmel herab und ließe sich sanft auf Barberini, Altem Rathaus, Nikolaikirchenkuppel, Obelisk und Fortuna nieder. Was für ein besänftigendes Glück wäre das doch! – Überspannt der Platz, dennoch sähen wir den Himmel.

Die Zauberformel muss dabei der ungreifbare, einladende Halbschatten bleiben. Ein Konstrukt könnte das sein aus Sonnensegeln, Girlanden, Wimpelkolonnen, Fahnen und Fähnchen, unterstützt von Markisen in den Erdgeschossen der Anrainergebäude.

Diese Wimpel- und Girlandenhaube ließe sich wunderbar zwischen den Dächern aufziehen: Der Obelisk bündelt sie im Zentrum. Das Alte Rathaus bietet mit seinen Figuren auf der Attika allein sechs Anknüpfungspunkte (Atlas-Statue aus guten Gründen nicht mitgezählt), ebenso die Vasen auf der Balustrade des Barberini. Das Fortunaportal könnte mit seinen vier Eckfiguren ebenso der Aufhängung des Netzzeltes dienen; ja man müsste der Fortuna tatsächlich selbst ein paar Fäden in die Hand legen, so dass sie, wenn sie sich mit dem Wind dreht, die Kraft in das Gebilde überträgt.

Wimpelleinen zwischen Nachbarn in der Choriner Straße, Berlin (Foto: André Franke)

Fortunaportal: Könnte eine ganze Reihe von Zitronenbäumen schultern und damit für mehr Stadtbild und Schatten sorgen (Foto: André Franke)

Mir geht das Herz auf, wenn ich an diesen möglichen Stadtraum denke. Allein das Fortunaportal vermag noch viel mehr zu bieten. Es könnte regelrecht auftrumpfen am Alten Markt, wenn es beispielsweise Zitronenbäumchen für sein Obergeschoss einzufordern im Stande wäre. Aber es kann ja nicht sprechen. Diese sollten selbstverständlich in Reihe geschaltet sein, nicht aus Erinnerung an die preußische Infanterie, sondern, weil sie dann nach Süden hin, Richtung Mittagssonne, zusammen in der Fläche wirken und den Schatten spenden, den Merks heißer Markt so vermissen lässt.

Ein Segeltuch wäre auch noch eine Idee. So eine Art Banner, das vom Alten Markt den Blick auf das moderne Hotel Mercure verdeckt. Das würde denjenigen entgegenkommen, die das Gebäude abreißen wollen. Das Quersegel würde mittags den besagten Schatten werfen und abends bespielbar für Filme im Open Air Kino sein. Klar, dass der Projektor vom Obelisk ausstrahlen sollte, oder?

Alter Markt als Wimmelbild in „Hitzi“ mit viel Sonne und Sonnenschutz (Illustrator: Jörg Hafemeister, Landeshauptstadt Potsdam)

Der Alte Markt braucht einen Ideenwettbewerb

Wenn allein ich auf Ideen wie diese komme, auf wieviele und auf welch bessere käme die Stadt Potsdam, wenn sie sich ein Herz fassen würde und einen Ideenwettbewerb zur Erlebbarmachung des Alten Markts ausloben würde? „Hitzi“, Potsdams cooles Hitzeheft, gibt doch mit seinem Coverbild bereits einen Vorgeschmack auf bessere Zeiten.

Leider scheint das nicht wirklich ernst gemeint zu sein: mit Trinkwasser-Bar, Sonnenblumen-Topf auf dem Obelisk und Sonnensegeln zwischen den Häusern. Potsdams Alter Markt muss mehr werden als die Kulisse, aus der man sich wegschleicht. Der Alte Markt muss cool werden, damit die Menschen ihn und seine Geschichte überhaupt erkennen können.

Links:

 

Wagins Baum

Als ich 1997 nach Berlin kam, zog ich in eine Studentenwohnung in Siegmunds Hof. Das ist kein Hof. Das ist eine Straße in Tiergarten, die eigenartig schräg nach links von der Bachstraße abgeht und Richtung Spree führt. Die S-Bahnstation Tiergarten befindet sich hier. Von dort, auf dem Bahnsteig stehend, war der „Weltbaum“ an der Brandwand des gegenüberliegenden gelben Altbaus am schönsten anzusehen. Das Mural von Ben Wagin war schon damals nicht mehr ganz beisammen. Es blätterten die Farben ab, der Baumstamm grade noch zu erkennen, auch der Motorradauspuff. Das Schiff mit den fünf markanten Bäumen war schon fast völlig verschwunden. Das Bild erstreckte sich bis unters Dach des Hauses und grüßte bis in die Straße des 17. Juni. Jeden Tag kam ich an ihm vorbei. Wirklich betrachtet, hatte ich es damals nicht.

Weltbaum mit Ablegern

Erst als das Mural vor ein paar Jahren verbaut wurde und Streetartisten es in der Lehrter Straße kopiert hatten, nahm ich mir Zeit für Wagins Kunstwerk. Der neue Standort schien besser als der alte. Die blanken Vollrohrrutschen des Spielplatzes an der Lehrter Straße wirken als würde der gemalte Auspuff aus dem Bild herausspringen, weil sich beides überlagert. Das ist genial. Umso mehr überzeugte mich die Wandbildkopie, in dem sie sogar von der Heidestraße in der Europacity zu erkennen war. Wagins Weltbaum strahlte weiter als jemals zuvor. Das ist nun wieder anders, nachdem die Blöcke in der nördlichen Heidestraße ihre geplante Höhe erreicht haben. Schade, aber schon okay.

Am S-Bahhof Tiergarten verbaut und in der Lehrter Straße von Künstlerin neu gemalt

Wie überraschte mich da ein neuer Weltbaum, als ich vor kurzem mit Gästen aus dem Hansaviertel kommend Richtung Bachstraße radelte! Ich dachte, der Weltbaum sei am Ursprungsort tot. Weit gefehlt, denn da war er noch. Da war er wieder. Eine Miniatur hängt in der Joseph-Haydn-Straße am Bahnviadukt, und ich hatte sie nicht gesehen, als ich im September mehrmals auf dem Weg von Charlottenburg nach Mitte von der Bachstraße über die Joseph-Haydn-Straße zur Klopstockstraße durch den Viadukttunnel gefahren war. Ich kam einfach aus der falschen Richtung.

Es gibt also zwei Orte, an denen Ben Wagins Weltbaum weiter wächst. Und natürlich wachsen seine Weltbäume vor allem im „Parlament der Bäume“, wohin ich es an einem Sonntag im August endlich mal schaffte. Während mein fünfjähriger Sohn mit dem Gartenschlauch spielte, unterhielt ich mich mit einem Baumpaten. Die Baumpaten kümmern sich um die Pflanzen dort. Ein ausgewachsener Baum bräuchte etwa 300 bis 500 Liter Wasser pro Tag, erzählte er mir. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber ich glaube, er sagte sogar: pro Quadratmeter. Jetzt stehen im „Parlament der Bäume“ mehr als nur ein Baum. Schlagartig wurde mir klar, dass dieser Ort in zwanzig Jahren verschwunden sein wird. Ein einziger Gartenschlauch… Der Baumpate erzählte weiter vom Wetter, das nach Norden zöge und sich über der Nordsee abregnete, vom Grundwasser, das sich absenkte; sprach von einer Freundin im Alter von irgendwas über 80 Jahren, die mal zu ihm gesagt hätte: „Na Gott sei Dank, dass ich das alles nicht mehr erleben werde.“ Der Baumpate hatte mit ihr über die Dürre-Zukunft in Deutschland geredet. „Doch, Du wirst es noch erleben“, hatte er erwidert. Es kann also schneller (zu Ende) gehen als in zwanzig Jahren. Mit den Bäumen und mit uns.

Neuer Weltbaum in der Lehrter Straße, Spielplatz

Miniermotten und Missverständnisse

Eine andere Art „Baumpatin“, die allerdings nicht mehr alle beisammen hatte, traf ich neulich ganz unverhofft. Sie kehrte die Blätter einer hochgewachsenen Kastanie zusammen, als ich über einen Hinterhof lief, um meine Tochter von ihrer Freundin abzuholen. Ich solle doch bitte mithelfen, die braunen Blätter einzusammeln. Nein, „bitte“ hatte sie nicht gesagt. Wäre aber schön gewesen. Ich blieb stehen und hörte zu, als sie mir den Lebenslauf der Miniermotte erklärte. Fand ich toll. Ich hatte aber keine Zeit. Es stellte sich heraus, dass die Gute die Eigentümerin des Hauses war. Ebenso stellte sich heraus, dass es ihr scheinbar völlig egal war, dass ich nicht Mieter, sondern Besucher des Hauses war und auf dem Sprung. Dieser Baumpatron forderte von mir eine Aktion ein, die nicht auf meiner Liste stand. Es war doch nicht Sonntag. Als ich später mit meiner Tochter aus dem Quergebäude kam, schlug ich der Frau vor, ein Hoffest zu veranstalten und die Bewohner einzuladen. Leider war sie unzugänglich wie der London Tower nach 18 Uhr. Ein Baum hatte uns auseinander gebracht.

War ich denn für den Baum verantwortlich? Wenn es in diesen Septembertagen einen Berliner Baum gab, für den ich mich verantwortlich fühlte (und zwar als Tourguide), dann war das die nordamerikanische Roteiche am Teehaus im Tiergarten. Queen Elisabeth hatte sie dort im Frühling 1965 gepflanzt. Der Baum lag auf der Route gleich zweier Radtouren, und die gestorbene, damals noch nicht bestattete Königin war infolge des Medienrummels in allen Köpfen. Dieser Baum ist bemerkenswert, denn ihm wurde bereits in jüngsten Jahren das Rückgrat gebrochen. Berliner knickten den Stamm um, nachdem der Polizeischutz abgezogen war (siehe B.Z. und Tagesspiegel). Ein Meistergärtner operierte das drei Meter hohe Pflänzchen, das wieder vollständig genas. Die Narben sollten wir heute noch sehen. Doch ich fand sie nicht an dem Baum. Ich hatte den Gästen die falsche Eiche präsentiert. Ein Kollege half mir, den Irrtum aufzudecken (Danke, Alexander!). Die echte Eiche steht zwanzig Meter weiter östlich. Ich hatte daneben gegriffen. Wollte ich wirklich für einen Hofbaum sorgen, müsste ich viel lernen. Ich wusste ja nicht einmal, wie eine nordamerikanische Roteiche aussah.

Weltbaum-Miniatur am Bahnviadukt in der Joseph-Haydn-Straße

Ein Event und seine Früchte

In der Urania, am Donnerstag, den 22. September, beim „Stadt im Gespräch“, habe ich tatsächlich einiges gelernt. Die Lage in den Grünflächenämtern der Bezirke ist eine Katastrophe. Oliver Schruoffeneger (Grüne), Bezirkstadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf, machte deutlich, dass mit zu wenig Mitarbeitern und zu wenig Geld zu große Aufgaben erledigt werden müssen – und zwar seit zwanzig Jahren. Die Bezirke haushalten mit Budgets, die gerade soweit reichen, den Müll wegzuräumen. Das heißt, der Umbau der Stadt zu einer klimaangepassten Metropole ist bei diesen „großen Aufgaben“ noch gar nicht mit eingerechnet. Es geht bisher um den schlichten Erhalt der Grünflächen. Ob darüber hinaus der Umbau der Stadt erfolgreich sein wird, entscheide der Einsatz der Ressourcen.

Auch Darla Nickel, Leiterin der Berliner Regenwasseragentur, betonte, dass der Grünflächenerhalt das zentrale Problem sei. Froh hat mich gestimmt, wie sie Berlin als Experimentierstadt ins Feld führte, als die Perspektiven von Schruoffeneger und einem Senatskollegen gerade sehr pessimistisch wurden. Sie hatten sich über rechtliche Fallstricke geärgert, die ich hier nicht ausführen will (sie verdienen einen eigenen Artikel, vielleicht ein ganzes Buch). Aber Nickel, die mit ganz leichtem Englisch-Akzent sprach, vermochte mit ihrem Statement die Blickrichtung im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf grün zu stellen. Es passiere viel, und wir hätten in der Stadt kein Umsetzungsproblem, sondern ein Umsetzungsgeschwindigkeits-Problem. Danke für diese genaue Beobachtung.

Verbautes Stadtbild durch den HGHI-Tower an der Bachstraße, 2022

Und dann Antje Backhaus, Landschaftsarchitektin, mit ihrem Weckruf, Regenwasserbewirtschaftung sei total einfach. Es beginne damit, das eigene Regenwasserrohr umdrehen, damit das Wasser dorthin fließt, wo es gebraucht wird. Auch sie war durchweg positiv gestimmt, wenngleich sie Berlin als etwas schwerfälliger wahrnimmt und Experimentierfreudigkeit vor allem in dänischen Städten vorgeführt bekommen hat, wie sie erzählte. Das hat sie von den Kollegen aus dem Norden mitgebracht, dass man „einfach mal machen muss“ – eine Formulierung, die Oliver Schruoffeneger sicher wieder mit einer bizarren Anekdote aus dem Grünflächenamt parieren könnte.

Unsere Ulme

Wenn es also einen Baum in Berlin gibt, für den ich mich verantwortlich fühle, dann ist es die große Ulme auf meinem Hof. Über sie wird noch zu schreiben sein, glaube ich. Nur soviel vorweg: Der Baum steht am Schnittpunkt dreier Grundstücke in einem relativ freien Hinterhof-Gelände. Ein Brombeerstrauch wächst neben ihr am Boden. Krähen haben in der Krone gerade ein neues Nest gebaut. Die Traufen von drei Gründerzeithäusern sind gerade mal eine Armlänge oder zwei von den Ästen und Zweigen der Krone entfernt. Als ich mir das ansah, fragte ich mich, warum wir überhaupt die zwanzig Meter langen Regenrinnen an die Hauswände klemmen. Die Traufen sollten ins Zentrum der Krone verlängert werden, mit Schläuchen oder so. Und dann der Schock: Die Regenrinnen münden ins Unterirdische, auch die Regenrinne an meinem Haus. Einfach umdrehen? Das Experiment ist erstmal gescheitert. Eine Stadt umdrehen, das ist eben mehr als ein Experiment.

Noch ein Veranstaltungshinweis zum Thema

Mi, 28. September 2022, 11 Uhr
Beginn der Baumfällsaison 2022
Pressegespräch des Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung.
Ort: Kulturmarkthalle, Hanns-Eisler-Str. 93, 10409 Berlin.
nachhaltigestadtentwicklung.berlin

Links

B.Z. v. 10.09.2022: Diese Eiche pflanzte die Q…

Tagesspiegel v. 22.06.2015: Queen in Berlin: Majestätisch gewachsen