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Mit Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fahrradgerechtigkeit?

Es war ein Satz wie aus einem Drehbuch. Deshalb war er mir sofort symphatisch. Senator für Stadtentwicklung Michael Müller (SPD) freut sich in einem Artikel der “Welt” darüber, dass immer mehr Berliner mit dem Rad fahren, lässt die Infrastruktur für den Radverkehr ausbauen, schiebt aber allzu großen Hoffnungen auf eine entschlossene Wende in der Berliner Verkehrspolitik den Riegel vor:

„Wir werden den alten Fehler einer autogerechten Stadt nicht durch den neuen Fehler einer fahrradgerechten Stadt wiederholen.”

Linienstraße Ecke Gormannstraße

Linienstraße Ecke Gormannstraße: eine Alltagsblockade im Juni 2014. Ich zähle 4 Kfz und 5 Radfahrer. Das macht zwar einen Radverkehrsanteil im Modalsplit von über 50 Prozent, aber durch kommt hier keiner mehr.

Klingt gut, wie gesagt, trifft aber ins Leere:

  1. weil die neuen, potenziellen Fehler einer fahrradgerechten Stadt verglichen mit den Schwerst-Eingriffen der autogerechten Stadt leichtfüßiger, stadtraumverträglicher und schneller revidierbar wären. Der Umbau der Stadt von der autogerechten zur fahrradgerechten ist organisatorischer Art, nicht baulicher;
  2. weil sich “Autogerechtigkeit” und “Fahrradgerechtigkeit” gar nicht unbedingt ausschließen. Die “Fahrradstraße” Linienstraße in Mitte zum Beispiel soll ja von ihrer Konzeption her Klarheit schaffen: Autos auf die Torstraße, Räder auf die parallel verlaufende Linienstraße. Beide Verkehrsarten profitierten davon, wenn man das Konzept konsequent umgesetzt hätte und den Kompromiss mit der Anliegerstraße nicht eingegangen wäre. Stattdessen haben wir mit der unheilvollen Kombination aus (sowohl fahrendem, als auch ruhendem) Anlieger-, Liefer- und besonders durch die Taxen praktizierten Durchgangsverkehr, nach einem Bericht der Berliner Zeitung den drittgefährlichsten Radverkehrsort in Berlin geschaffen (nach Schönhauser Allee: Nr. 1 und Unter den Linden: Nr. 2);
  3. weil es jenseits von beidem um eine übergeordnete Verkehrsgerechtigkeit gehen muss, die nicht nur kleinräumig, wie am Beispiel von Tor- und Linienstraße, sondern auch auf größerem Maßstab zum Tragen kommen sollte. Michael Müller sagt ja auch, es sei wichtig, die Verkehrspolitik an das sich wandelnde Mobilitätsverhalten anzupassen. Das hieße aber, die gemessenen Verschiebungen im Modalsplit auf die Straße zu übertragen. Automatisch entstünde die Fahrradstadt in Teilen der Berliner Innenstadt, und es bliebe gleichzeitig genug Autogerechtigkeit für den Kfz-Verkehr in den Außenbezirken, Radial- und Tangentialstraßen.

Wir dürfen keinen Leitbild-Krieg führen. Vielleicht meint der Senator das. Aber wie zwei Muskeln im konträren Zusammenspiel dafür sorgen, dass sich der Knochen bewegt (was mir mein gerade zu Ende gehender Hexenschuss im Negativ vor Augen führte), so brauchen wir auch beide, aufeinander abgestimmte und sich nicht gegenseitig blockierende “Teilgerechtigkeiten” für die Bewegung in Berlin – damit kein Krampf entsteht wie in der Linienstraße und damit wir uns die Knochen am Ende nicht brechen.

Schiller philosophierte bei seiner akademischen Antrittsrede in Jena einst über die Frage: “Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?” und beschreibt die ideale Geisteshaltung des Wissenschaftlers, den “philosophischen Kopf”, den wir wider aller Systeme und Fahneninschriften in Berlin brauchen:

“Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den “Brotgelehrten” niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung (z.B. 50 Prozent Radverkehrsanteil in der Kastanienallee schon im Jahre 2010 – Anm. d. Verf.), ein neuentdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von außen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der erste, der es unbefriedigt auseinanderlegt, um es vollkommener wiederherzustellen.”

Schweizer „Velo-Sack“ an der Oranienburger gefunden

Der Austausch über Stadtentwicklung kann so fruchtbar sein. Vor allem wenn er länderübergreifend stattfindet. Hier das Gelernte von einer exklusiven Zukunft-Berlin-Tour vom Montag.

Schweizerische Straßenbaukommissare waren am Montag unterwegs mit mir auf einer Zukunft-Berlin-Tour. Da sie sich auch speziell fürs Thema Fahrradstadt interessierten, begannen wir die Tour über die Choriner und Linienstraße. Beides sind bekanntlich ausgewiesene “Fahrradstraßen”. Etappenziel: das Fahrradfahrerlinksabbiegervorhaltefenster am Ende der Linienstraße, wo auch die Oranienburger auf die Friedrichstraße trifft. Ich wiederholte die Behördenvokabel mehrmals. Die Schweizer kannten die Einrichtung, aber nicht den Begriff. “Bei uns heißt das”, sagte einer ganz trocken, “Velo-Sack”. – Wie geil war das denn! Kurz darauf fragte einer, ob es nicht auch bei uns in Deutschland irgendeine Abkürzung dafür gebe. Ich kenne keine, aber werde mich dafür einsetzen, dass sich “Velo-Sack” durchsetzt. Versprochen, meine lieben Kommissare.

"Velo-Sack"

 

Schwarz gewinnt – in der Linienstraße und aus architektonischen Gründen

Die Farbe des Hauses ist so dunkel wie die Tasten des Cembalos, das drinnen im dritten Stock steht. Der Tagesspiegel nennt es „das große Schwarze“, der Berliner Kurier die „Beton-Bausünde der Linienstraße“. Ersterer stellt das Gemeinschaftsprojekt des Architekten Roger Bundschuh und der Künstlerin Cosima von Bonin zur Abstimmung für den Architekturpreis Berlin. Unter insgesamt 160 Bauten läuft es unter Nummer 145 und wartet auf Stimmen. Meine hat es bekommen, was nicht heißen soll, dass ich in diesen Tagen Schwarz wähle. Heute noch kann man für den Publikumspreis abstimmen, und hiermit bewerbe ich meinen Favorit. Es gibt in Berlin übrigens Bauten der gleichen Farbe, über die man nicht so glücklich ist; ein Beispiel ist der Neubau am Garbátyplatz in Pankow. Wie Sebastian Leber im Artikel des Tagesspiegel schreibt, gehört der Kielflügel, wie man zum Cembalo auch sagt (es ist kein Klavier, wie er schreibt), zur 200 Quadratmeter großen Wohnung des Unternehmers Ralph Anderl. Sie sei so groß und lang, dass er darin sogar Fahrrad fahre. Das macht Sinn, immerhin steht das „L40“, wie der Bau heißt, in einer ausgewiesenen Fahrradstraße. Morgen schon wird der Architekturpreis vergeben (siehe Eventkalender).