Das Grab des Volkes

Not macht erfinderisch, sagt man. Es war die Gefahr des Terrors, die den Besucherempfang im Reichstag wie einen Hund hinaus auf die Straße setzte. Jetzt erfinden die Hausherren das Tier neu und wollen einen stattlichen Löwen aus dem begossenen Pudel machen. Die Gäste des Reichstags sollen sich über die deutsche Demokratie aufklären, Filme gucken, ihre Kinder ruhigstellen. Und mehr: an Seminaren teilnehmen und dem Bundespräsidenten begegnen – alles unter Tage bitte. Aber haben wir Erfindungen nötig, die keine sind?

Der wohl überzeugendste „Ort der Aufklärung“, wie ihn Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse vom geplanten unterirdischen Besucherzentrum nach einem Artikel von „Spiegel Online“ wünscht, ist heute schon der Deutsche Dom am Gendarmenmarkt. Hier kann man sich in einer Dauerausstellung des Bundestags (Hat er etwa vergessen, dass es sie gibt?) auf fünf Etagen kostenfrei und multimedial über die deutsche Volksherrschaft informieren bis der Parlamentsarzt kommt, wenn er denn hinfindet. Filme gucken inklusive. Was den geplanten Kinderraum angeht: Eine funktionierende Kita in himmelblau gibt es gleich um die Ecke vom Reichstag in der Otto-von-Bismarck-Allee 2. Seminarräume? – In die Politik- und Gesellschaftslehre kann man bei der Bundeszentrale für politische Bildung gehen, gleich um die Ecke vom Deutschen Dom am Checkpoint-Charlie. Und einen Repräsentationsbereich für den Bundespräsidenten, der ein Schloss (ein Schloss!) hat, auch noch mit da unten reinzuquetschen, bezeugt die heraufziehende Humboldtforums-Denke: Alles muss rein, komprimiert wie in der zip-Datei. Auch wenn es woanders längst herumschwirrt. „Woanders“ muss zu uns.

Auch das Finanzformat scheint mit 500 Millionen Euro Baukosten fast deckungsgleich mit dem Berliner Schloss. Zwei Jahre nach Eintreffen der Not sind es vorm Reichstag – Gott sei dank – die Kosten, die explodieren, und keine Bomben. Aber das muss man sich doch mal auf der Zunge zergehen lassen: Da wird vor der Türe des Reichstags ein ganzes Barockschloss versenkt! Das klingt irgendwie nicht gesund. Hier ist ein Schneeball ins Rollen gekommen und hat so dermaßen an Masse gewonnen, dass sich mir der Verdacht auftut, der Bundestag wolle seine Besucher mit dem unterirdisch-außerirdischen Besucherzentrum nicht empfangen, sondern betäuben, sie unter allen Umständen davon abhalten, die eigentliche Sehenswürdigkeit zu betreten. Kuppel ejal, ick kenn‘ dir schon vom Fülm. Neulich erzählte mir eine Frau, die in die Gedenkstätte Hohenschönhausen gehen wollte, sie hätte sich nicht mehr hineingetraut, nachdem sie sich zu Beginn den Einführungsfilm angesehen hatte. Der unpersönliche Film hat sie um die persönliche Begegnung mit einem Ex-Stasi-Häftling gebracht. Wie denken Bürger über Politik, wenn sie ihre Abgeordneten nur durch die Kamera kennen, den Plenarsaal nie unter ihren eigenen Füßen hatten?

Das Besucherzentrum als Betäubungszentrum wird auf diese Art nicht nur das viel befürchtete Milliarden-Grab. Es wird auch das Grab des Volkes, dem man bei seinem Aufstieg zur Kuppel beschäftigungstherapeutische Steine in den Weg legt. Wer hier vergisst, dass er in den Reichstag wollte, ist an der Firewall gescheitert. So gesehen, ist es eben doch eine Erfindung. Eine raffinierte sogar. Wer nicht stolpert, hat die Kuppel verdient.

5 Kommentare
  1. matze sagte:

    geiler vergleich auch: Stasi Knast und Besucherzentrum des Bundestages

    und : Aufklärung = Beschäftigungstherapie ???

    ich wundere mich stark

    500 Millionen = Milliardengrab ???

    soll alles so bleiben wie es ist ?

    (billigste Kontainer )

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    • André Franke sagte:

      Danke für Deinen Kommentar, Matze. Du hast ja Recht, wenn Du sagst, besser ein modernes Besucherzentrum als das Schloss der alten Kaiser. Ich hätte auch lieber das eine als das andere. Aber wir haben ja keine Wahl. Das Humboldtforum wird gebaut. Und dass man eventuell überrascht eine Ausstellung zum deutschen Parlamentarismus vorfindet, wenn man nichts ahnend den Deutschen Dom betritt, mag tatsächlich dafür sprechen, dass sie unter dem falschen Dach gelandet ist. Dagegen hab ich das Besucherzentrum nicht mit der Stasi verglichen, sondern den medialen “Appetizer” in Frage gestellt, der manche vielleicht zu schnell satt macht, und vom “Milliardengrab” hatte “Spiegel Online” mit Bezug auf Herrn Ramsauer gesprochen. Nochmal zum “Appetizer”: Die Aufklärung besteht am Platz der Republik meiner Meinung darin, dass man die Menschen in das Parlamentshaus lässt. Es ist die Nähe zum Ort, an dem die Macht sitzt und die Atmosphäre, in der die Luft brennt, die die Leute aufsuchen. Das ist mehr wert als politische Bildung auf Distanz. Vergessen darf man dabei nicht, dass die Aufmerksamkeit der Menschen Grenzen hat. Wenn die Hauptspeise kommt, nachdem ich drei Salate gegessen habe, kommt sie zu spät. Sind nicht die ersten 45 Minuten die wichtigsten, in denen einem die Sinne brennen? In dieser Verfassung muss man die fette Henne sehen! Was allerdings die Lösung für die Baracken ist, weiß ich auch nicht. Entweder alles geht zurück, wo es mal war. Oder es bleibt so wie es ist. Oder man erinnert sich: Es war einmal ein Bürgerforum, das hatten die Architekten als Ort für das Volk ausgesucht. Als aber das Haus der Regierung und die Häuser des Parlamentes nach langem Bauen fertig waren, da war kein Geld mehr übrig für den Ort der Bürger, und so wurde das Forum nicht gebaut. – Die Bürger hatten “ihren” Ort schon verdient, aber nicht bekommen. Warum also nicht die Lücke im Band des Bundes schließen, sondern ein U-Boot versenken?

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  2. matze sagte:

    Lieber André,

    kann deine Kritik diesmal leider überhaupt nicht teilen.
    Hier -beim Besucherzentrum – geht es vor allem um den Bürger_in
    und damit die Gesellschaft.
    Ein Ort für den Bürger_in mitten im Regierungsviertel.
    Die Chance Aufklärung und Tranzparenz der Politik zu schaffen an einem Ort an dem sie
    passiert.
    Dort wo reger Massenandrang herrscht. Klos und Espresso fürAlle !!!
    Lieber dieses Zentrum als ein Schloss (Symbol für Kaiser und Diktatur)
    Finde es bezeichnend dass der Verkehrsminister Ramsauer Farbe bekennt –
    kein Gelder dass Besucherzentrum aber Sozialiszen und jüngste Vergangenheit auf den Friedhof und
    Geld genügend dass Kaiserreich wieder auferstehen zu lassen —
    seh schon den Menschen wieder staunend die Linden runterlaufen und von Deutschlands vergangener Größe träumen.

    Nein – dann doch lieber 1 , 2 , viele Besucherzentren um den Zeiten der Entmündigungen vorzubeugen.
    Um Menschen debatieren zu lassen und einen Raum für Teilhabe und -nahme zu schaffen.
    Und mit hohen Summen zu kommen – billigste Polemik.
    Für so viel anderes ist so wahnsinnig viel mehr Geld da.
    Und egal wieviel es kosten sollte, die Demokratie, Wähler_in und Steuerzahler_in haben diesen Ort verdient.
    Denn hier koennte ein Staat symbolisch zeigen wieviel ihm dass Volk wert ist – na ja jetzt steigere ich mich hier rein.
    Aber ich hoffe der Kern ist trotzdem rübergekommen.

    PS.
    Mal Hände hoch; wer wirklich schon im Dom war ?!- ist der falsche Ort dort.

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  1. […] länger unterirdisch geplant, sondern als ganz normales Haus im Tageslicht gebaut werden. Kein “Grab des Volkes” mehr, immerhin. Aber weichen soll ein Haus, wie die Berliner Zeitung schreibt, das am Platz der […]

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